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Lehrreicher Parforceritt

Tariq Ali und Oliver Stone durchmessen das 20. Jahrhundert

  • Helge Buttkereit
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn sich der vielfach preisgekrönte Regisseur Oliver Stone und der streitbare Autor Tariq Ali über Geschichte unterhalten, kann das nur interessant sein. Und das Gespräch der beiden über die Geschichte der USA im 20. Jahrhundert hat es wirklich in sich. Anlass war das Dokumentarfilm-Projekt »The Untold History of the United States«, das dieser Tage in den USA ausgestahlt wird. Der Bogen spannt sich von der Oktoberrevolution über den Zweiten Weltkrieg, den Ostblock, die »Pax Americana« bis zu den aktuellen Konflikten wie dem »Krieg gegen den Terror«. Dabei bleiben beide nicht auf ausgetretenen Pfaden. Selbst wenn man auf unter hundert Seiten nicht in die Tiefe gehen kann, die Einschätzungen und Interpretationen insbesondere von Tariq Ali sind gerade aus deutscher Perspektive erfrischend, denn sie bieten eine an vielen Stellen andere als die gewohnte Sichtweise.

So ist für Tariq Ali der Erste Weltkrieg das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts überhaupt. Ohne ihn und den Versailler Vertrag - Ali erinnert in diesem Zusammenhang an die Verantwortung von US-Präsident Wilson - wäre auch der Aufstieg des Faschismus nicht möglich gewesen. Natürlich lässt der historisch versierte Publizist auch die anderen Gründe für den Aufstieg Hitlers nicht aus, wie die Angst des Kapitals vor der Revolution.

Die Russische Revolution und ihre weltweite Ausstrahlung ist ohne den Ersten Weltkrieg nicht denkbar. Ihr Problem sei es gewesen, dass sich sofort wie bei jeder Revolution die reaktionären Mächte gegen sie verbündeten. Der Bürgerkrieg und die massenhaften Verluste insbesondere bei den revolutionären Arbeitern ist nach Meinung des gebürtigen Pakistani für den Aufstieg der Sowjetbürokratie hauptverantwortlich. Die Niederlage der Revolution verortet er in die Zeit der Kollektivierungen, 1929 und 1930: »Die Brutalität, mit der diese Kollektivierung der russischen Bauernschaft aufgezwungen wurde, hinterließ tiefe Spuren auf dem Land, weshalb die Deutschen, als sie in die Ukraine einfielen, von vielen Ukrainern als Befreier gefeiert wurden.«

Auch wer mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts vertraut ist, wundert sich zuweilen ein wenig, wie Oliver Stone und Tariq Ali von den Überlegungen über das Scheitern des Versprechens der Oktoberrevolution zum Feldzug des belgischen Königs Leopold im Kongo gelangen. Aber so weit entfernt von den allseits »bekannten« Katas-trophen des vorigen Jahrhunderts war die grausame Episode belgischen Kolonialismus tatsächlich nicht. Denn in Kongo fand ein Völkermord an zehn bis zwölf Millionen Menschen statt, der den Monarchen zu einer der meistgehassten Personen nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa machte.

Dass ein kritischer US-Amerikaner und ein Pakistani im Exil sich nicht um irgendwelche Denkverbote kümmern, die von verschiedener Seite der Geschichte auferlegt werden, tut dem Text gut. So zieht Ali eine klare Linie vom seiner Ansicht nach militärisch nicht notwendigen »Bombenterror« über Deutschlands Städten zu den »Testabwürfen« der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki. Das sei kein weiter Weg: »Ich habe mich immer gefragt, ob sie diese Waffen auch an einer weißen Rasse ausprobiert hätten. Offen gesagt: Die Japaner waren so sehr verteufelt worden, dass die Auslöschung zweier Städte keine große Sache war.« Ali erinnert auch daran, dass der Rassismus insbesondere gegenüber den Japanern in den Vereinigten Staaten der Vorbereitung des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg dienlich war.

Kein Geheimnis ist, dass die Vereinigten Staaten nach 1945 versuchten, zur Zurückdrängung des sowjetischen Einflusses in Europa und in der Welt, möglichst viele hörige Satellitenstaaten aufzubauen und dabei nicht vor Krieg zurückschreckten. Dass in jenen vielfach keine Demokratie herrschte, damit der Einfluss der US-Regierung und des US-Militärs nicht gefährdet ist, dürfte historisch interessierten Zeitgenossen bekannt sein. Viele US-Bürger jedoch, die ihr Land immer noch als makellosen Hort von Freiheit und Demokratie ansehen, mögen solche Tatsachen unglaublich und schockierend sein.

Der Parfoceritt durch die Geschichte im Gespräch von Oliver Stone und Tariq Ali, zwei interessanten Männern, die nicht nur Zeugen des 20. Jahrhunderts, sondern auch aktive Mitgestalter des »Zeitalters der Extreme« (Eric Hobsbawm) waren, endet in der Gegenwart und weist in die Zukunft. Für die beiden, die bereits gemeinsam den Film »South of the Border« gedreht haben, vermitteln die linken lateinamerikanischen Präsidenten neue, hoffnungsvolle Ansätze. Tariq Ali sieht Staaten wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador auf dem Weg zu planenden sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten.

Das ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Ob sich hier aber auch, wie viele Linke hierzulande hoffen, der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ankündigt, bleibt fraglich. Um die Chancen weiter auszuloten, ist neben dem Blick auf die Staatsspitzen auch der auf die Basis nötig. Wer diesen Blickwinkel sucht, wird hier nicht fündig, aber das stört kaum. Denn allein der grundsätzlich optimistische Zug nach dem Resümee eines Zeitalters der Katastrophen ist ansteckend.

Oliver Stone/Tariq Ali: Zur Geschichte. Laika Verlag. 92 S., br., 14,95 €

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