Wurzeln, Metamorphosen

Buchtipp: Die Babelsberger Schule des Dokumentarfilms

  • Martin Mund
  • Lesedauer: 4 Min.

Die frühen 1960er-Jahre bedeuteten im internationalen Film eine Zeit der Unruhe. Die Regisseure des französischen Cinéma vérité flohen aus den Ateliers und suchten das Leben auf realen Straßen und Plätzen zu entdecken und zu verdichten; auch das britische Free Cinema und das US-amerikanische Direct Cinema wandten sich vehement dem Alltag zu; und sowohl die Prager Neue Welle als auch das polnische und ungarische Kino begannen, das Woher und Wohin des Sozialismus realistisch-kritisch zu befragen. Allerorts Strudel, Um- und Aufbrüche, ein Aufbegehren gegen Denk- und Gestaltungsverbote, ein Abstreifen der Tabus, ein aufregendes Wechselspiel neuer Inhalte und Formen. Das Kino wandelte sein Gesicht.

Auch in der seit Kurzem von einer Mauer umgebenen DDR entwickelte sich, so ist jetzt nachzulesen, ein neues cinéastisches Selbstbewusstsein mit einer ganz eigenen Art kunstvoller Annäherung an die Wirklichkeit. Der DEFA-Dokumentarfilm legte die in den 1950er-Jahren geschnürten engen Fesseln der bloßen Schützenhilfe für Agitation und Propaganda ab; jüngere Regisseure und Kameraleute begannen, die Urgründe der Gegenwart zu erkunden. Plötzlich entstanden wahrhaftige Filme über »Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, von Arbeitern und Bauern, von ihren Tätigkeiten und Anstrengungen«, von »Interaktionen der Arbeitswelt und des Alltags« (Klaus Stanjek). Filme über Arbeit, die den Menschen prägt, formt und fordert. Ein Kino, das soziale Räume ausmisst, die Wirklichkeit sinnlich und glaubwürdig vermittelt.

Klaus Stanjek, Professor für Dokumentarregie an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg, subsummiert diesen Aufbruch unter dem Oberbegriff »Babelsberger Schule des Dokumentarfilms«. Das Buch, das er soeben zu diesem Thema herausgab, ist sowohl eine Bestandsaufnahme über die Inspirationen, die das deutsche Kino von dieser Schule erfuhr und bis heute erfährt, als auch eine Spurensuche nach Wurzeln und Metamorphosen.

Günter Jordan, der dankenswerter Weise die Co-Autorenschaft übernahm, geht an die Quellen zurück und belegt, woher diese ganz eigene Art der filmischen Wirklichkeitssicht kam. Die Deutsche Hochschule für Filmkunst bildete gleichsam ihre Geburtsstätte, aber auch das Leipziger Festival für Dokumentar- und Kurzfilme, wo sich den jungen DEFA-Regisseuren eine Welt der Ideen und Ideale eröffnete, und wo international anerkannte Meister wie Joris Ivens und Chris Marker den ersten Herausbringungen der »Babelsberger«, Jürgen Böttchers »Ofenbauer« (1962) und »Stars« (1963), Winfried Junges »Elf Jahre alt« (1966) oder auch Karl Gass' »Feierabend« (1964), ihren Tribut zollten.

Jordan untersucht den revolutionären Umgang mit Kamera und Ton, er fragt nach dem prägenden Montagerhythmus, der Verwendung des Kommentars oder der Präferenz für bestimmte Einstellungsgrößen; er widmet sich auch dem Nachdenken darüber, was an diesen Filmen eigentlich subversiv gewesen ist. Wichtige Arbeiten von Volker Koepp, Kurt Tetzlaff, Werner Kohlert, Karlheinz Mund und dem Kameramann Christian Lehmann werden zur Beweisführung herangezogen: sehr präzise, aus einer detaillierten Kenntnis des Filme und Zeitumstände heraus beschrieben, immer auf das zentrale Thema der »Babelsberger Schule« zugeschnitten: Wie spiegelte sich in diesen Filmen die Arbeitswelt als ein zentrales Moment des menschlichen Daseins?

Den Abschluss des Bandes, zu dem auch eine Studie über die Langzeitdokumentationen von Barbara und Winfried Junge (»Die Kinder von Golzow«) und Volker Koepp (»Wittstock-Zyklus«) gehört, bildet die Beschreibung von exemplarischen Produkten der »Babelsberger Schule«. Skizziert werden dabei nicht nur DEFA-Werke wie Tetzlaffs »Erinnerung an eine Landschaft - Für Manuela« (1983) über die Verpflanzung eines ganzen Dorfes, das der Braunkohle weichen musste, sondern auch Produktionen aus der Zeit nach dem Ende der DDR: etwa »Eisenfresser« (2007), »Die Träume der Lausitz« (2009) und zuletzt »Wadans Welt« (2010), in denen sich die Themen und Erzählprinzipien der »Babelsberger Schule« bis in die Gegenwart erhalten haben: auf genauer Beobachtung gegründete, von Empathie getragene Filme über moderne Industriearbeit, ihre Protagonisten und Werte.

Das Buch ist also keineswegs nur ein filmgeschichtlicher Exkurs, sondern denkt stets auch soziale und soziologische Veränderungen der vergangenen fünfzig Jahre mit, macht die Verflechtungen zwischen Kunst und Gesellschaft auf anschauliche und spannende Weise transparent.

Klaus Stanjek (Hg.): Die Babelsberger Schule des Dokumentarfilms. Bertz + Fischer Verlag Berlin, 196 S., zahlr. Abb., 14,90 €.

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