»Meine Liebe zu Dir ist ein Riese...«

Die Liebe - auch so ein Problem, das Marx nicht löste? Ein sinnlicher Auftakt zum Doppeljubiläum des Philosophen

  • Jürgen Herres
  • Lesedauer: 7 Min.

Karl Marx galt - und gilt - als ein Rationalist und Verstandesmensch. Die Worte Gefühl und Liebe soll er nur schwer über die Zunge oder aufs Papier gebracht haben. David Rjazanov, Herausgeber der ersten MEGA, gestand: »Es ist nicht zu leugnen, daß ihm nicht alle Seiten [der] menschliche[n] Natur gleichermaßen zugänglich waren.« Einige Kritiker gingen so weit zu behaupten, Marx sei außerstande gewesen, das Gute im Menschen zu erkennen, da er an einem »Übermaß der Verstandestätigkeit« gelitten habe. Sogar Marx’ Eltern zweifelten, ob in seinem Herzen Raum sei »für die irdischen, aber sanfteren Gefühle«. Seine Mutter bedauerte, dass er »zu vernünftig« sei.

Und selbst Friedrich Engels, von dem sonst keine negative Äußerung über Marx bekannt ist, reagierte einmal mit großer Bitterkeit. »Du fandest den Moment passend, die Überlegenheit Deiner kühlen Denkungsart geltend zu machen.« Marx hatte beim Tod von Engels’ erster Lebensgefährtin (Mary Burns) kaum Anteilnahme gezeigt, stattdessen über Geldprobleme geklagt. War also »Liebe - auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat?« Mit dieser polemischen Bemerkung hat der französische Dramatiker Jean Anouilh vermutlich Marx in Schutz nehmen wollen.

Nun, im Gegensatz zu dem Bild eines herzlosen Verstandesmenschen zeigte Marx durchaus Leidenschaft, sogar große Leidenschaft. Als Wissenschaftler, aber auch als Politiker und nicht zuletzt in seinen polemischen Schriften. Zudem: Von Marx sind zahlreiche Liebesgedichte an seine langjährige Verlobte überliefert. Noch bevor er Jung-Hegelianer wurde, verliebte sich der 18-Jährige in die vier Jahre ältere Jenny von Westphalen, Tochter eines adeligen preußischen Regierungsrates, die als das intelligenteste und schönste Mädchen Triers galt. Als sie 1843 heirateten, begann Marx in den Flitterwochen mit seinem Studium des französischen Sozialismus und Kommunismus.

In seinen Frühschriften machte er aber bemerkenswerte Ausführungen zur Liebe. Interessanterweise sah er in der Liebe das »Mädchen aus der Fremde«, den Inbegriff des »Lebendigen«, »Unmittelbaren«, der »sinnlichen Erfahrungen«. Und er schrieb: »Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d. h., wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußrung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück.« Liebe müsse erwidert werden.

Bereits zu seinen Lebzeiten, aber vor allem im 20. Jahrhundert wurde Marx’ Ehe- und Familiengeschichte jedoch sehr einseitig erzählt. Anhänger wie Gegner malten - aus politischen Interessen - entweder ein allzu positives oder allzu negatives Bild.

Die jüngste Tochter Eleanor hat die Liebesgeschichte ihrer Eltern verklärt. Aus ihrer Sicht passten beide »vollkommen zusammen und ergänzten sich«. Sie blendete die Spannungen, Konflikte und Zerwürfnisse der Eltern aus. Nach dem Tod von Marx hat sie gemeinsam mit ihrer Schwester Laura den Briefwechsel der Eltern vernichtet. Deshalb sind nur ganz wenige Briefe überliefert, die Einblick in die Gespräche und Gefühle von Jenny und Karl Marx geben.

In der umfangreicher überlieferten Briefkorrespondenz von Marx mit Engels erscheint Jenny lediglich als die Ängstliche, die Klagende und Jammernde. Hierauf stützt sich eine andere weit verbreitete Interpretation, die Jenny als Opfer ihres dominanten Mannes darstellt. Die perfideste und zugleich lächerlichste Darstellung veröffentlichte in der Zeit des Nationalsozialismus ein ehemaliger Sozialdemokrat, Emil Unger-Winkelried, der sich den Nazis angeschlossen hatte und Archivar der Landtagsfraktion der NSDAP in Preußen war. In Anspielung auf Marx’ jüdische Herkunft sprach er 1938 von der »Tragödie einer Mischehe«. Aus seiner Sicht wurde die »Ballkönigin« von dem »ungeselligen, anmaßenden, großmannssüchtigen ... und jeder regelmäßigen ... Arbeit abgeneigten« Marx ins Verderben gestürzt und sei »an der Sünde wider das Blut zugrunde gegangen«.

Karl und Jenny Marx hatten ein an Tragödien reiches gemeinsames Leben. Mehr als die Hälfte ihrer Kinder starb schon bald nach der Geburt. Besonders nah ging ihnen 1855 der Tod des achtjährigen Sohnes Edgar. Der zärtlich »Musch« genannte Junge entschlief in Marx’ Armen. »Ich vergesse die Szene nicht«, erinnerte sich später, 1896, Wilhelm Liebknecht, Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie, »die Mutter stumm weinend, Marx in erschrecklicher Aufregung, jeden Zuspruch heftig, fast zornig zurückweisend...«

Demgegenüber hat Marx seinen unehelichen Sohn Frederick nie akzeptiert. 1851 wurde der höchstwahrscheinlich mit seiner Haushälterin Helena Demuth gezeugte Sohn geboren. Fast zur gleichen Zeit brachte Jenny eine Tochter zur Welt, die bereits ein Jahr später verstarb. Um ein Familiendrama bei den Marxens zu verhindern, trieb Engels seine Freundschaft so weit, dass er die Vaterschaft übernahm. Frederick Demuth, später ein Maschinenschlosser und Gewerkschafter, wurde auf Kosten von Engels in einer Pflegefamilie untergebracht. Erst unmittelbar vor seinem Tod enthüllte Engels das Geheimnis. Auf seinem Sterbebett soll er, nicht mehr in der Lage zu sprechen, Eleanor die Wahrheit auf einer Schiefertafel bestätigt haben. Über Marx’ Vaterschaft legte im ausgehenden 19. Jahrhundert auch die deutsche Sozialdemokratie den Mantel des Schweigens. Die wenigen dazu überlieferten Schriftstücke ließ schließlich Stalin in seinem Panzerschrank verschwinden. Erst 1991 tauchten sie wieder auf.

Für Jenny war die Liebe zu Marx eine bewusste Entscheidung. 1841, zwei Jahre bevor sie heirateten, hatten sie zum ersten Mal Sex. Danach schrieb Jenny an ihn: »Ich fühle keine Reue, halte ich mir die Augen fest, fest zu ... seh ich dann Dein selig lächelndes Auge ... Ach Karl ich weiß sehr gut was ich gethan und wie ich vor der Welt geächtet wäre, ich weiß das Alles, ... und dennoch bin ich froh und selig und gäb selbst die Erinnerung an jene Stunden um keinen Schatz der Welt dahin.« Und für Marx? Kurz vor der endlichen Hochzeit 1843 bekräftigte er gegenüber dem Schriftsteller Arnold Ruge: »Ich kann Ihnen ohne alle Romantik versichern, daß ich von Kopf bis Fuß und zwar allen Ernstes liebe.«

Nach der Heirat vollzog Jenny die Politisierung und Radikalisierung ihres Mannes vom Junghegelianer und rheinischen Liberalen hin zum Republikaner und Kommunisten mit und hatte einen nicht zu unterschätzenden Anteil an seinem Werk. Zeit ihres Lebens teilte sie die politische Mission ihres Mannes - aus Überzeugung. Die Heirat mit Marx scheint Jenny nie bereut zu haben.

Wie Jenny war aber auch Helena Demuth keine unselbstständige Frau. Ihre saarländische Geburtsstadt St. Wendel hat ihr jetzt ein Denkmal gesetzt. Der Bildhauer Kurt Tassotti hat sie schwanger darstellt, mit wehmütigem Blick auf ein Bildnis von Marx. Tatsächlich soll sie eine resolute Haushälterin gewesen sein, die durchaus ihre Meinung im Haushalt Marx zur Geltung brachte. Eine englische Schauspielerin beschrieb sie als eine Frau, die »sich das Vorrecht« herausnahm, selbst Marx »gründlich ihre Meinung zu sagen. »Die ganze Familie hörte auf sie, respektvoll, ja sogar demütig«.

Kommen wir noch einmal zurück auf Marx selbst. Aus dem Jahre 1856 ist ein berührender Liebesbrief an seine Frau überliefert. Er zeigt, wie sehr er seine Jenny liebte. »Mein Herzensliebsche ... im Kopf [halte ich] Dialoge mit Dir ... [Kein] Portrait ... ist ... je mehr geküßt und angeäugelt und adorirt worden als Dein Photograph.« Und weiter schrieb er aus Manchester seiner gerade in Trier weilenden Frau: »Meine Liebe zu Dir, sobald Du entfernt bist, erscheint als was sie ist, als ein Riese, in die sich alle Energie meines Geistes und aller Charakter meines Herzens zusammendrängt. Ich fühle mich wieder als Mann, weil ich eine grosse Leidenschaft fühle ... Aber die Liebe nicht zum Feuerbachschen Menschen, nicht ... zum Proletariat, sondern die Liebe zum Liebchen und namentlich zu Dir, macht den Mann wieder zum Mann.«

Der Brief bezeugt das Bemühen, sich ihrer Verbundenheit und Gemeinsamkeit zu versichern, die durch den harten Emigrantenalltag immer wieder auf die Probe gestellt, aber letztlich auch gefestigt wurden. Nehmen wir allein dieses Zitat zum Maßstab, so war Karl Marx immerhin in der Lage, Gegenliebe zu wecken, zum geliebten Menschen zu werden.

Dr. Jürgen Herres, Mitarbeiter der MEGA, spricht heute (19.1.) im »Salon Sophie Charlotte« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausführlicher über die Liebe bei Marx (und Engels); weitere Referate der unter dem Motto »Die Wissenschaft und die Liebe« stehenden Abendveranstaltung sind u. a. Goethe, den Humboldts und Einstein gewidmet (18 bis 24 Uhr, Markgrafenstraße 38, 10117 Berlin, Eintritt frei).

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