Plötzlich und unerwartet

Shakespeares »Wintermärchen« in Potsdam

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt doppelbödige Dichter. Es heißt, sie seien die besten. Shakespeare ist kein Doppelbödiger, es sind in seinem Werk zu viele Böden, die schwanken, brechen. Tiefe verschlingt jede Sehnsucht nach gesicherter Erklärung. Jago hasst Othello, Othello wütet gegen Desdemona, Lear verstößt seine Tochter Cordelia - aber alles Definitive der Ursachenforschung scheitert an jenem Verbund, den Shakespeares Gestalten mit dem Universum ihrer eigenen Seele bilden. Die Unerforschlichkeit beharrt siegreich auf leuchtendem Dunkel. Das »Plötzlich und Unerwartet« ist unsere unheimlichste Kraft. Es schießt hervor, es tritt Lawinen los. Lawine, vielleicht ein Schlüsselwort für dies hier: »Das Wintermärchen«.

Tobias Wellemeyer hat am Hans-Otto-Theater Potsdam ein Drama der Fassungslosigkeit inszeniert. Gesichter verlieren sich ständig in der Erstarrung. Offene Münder; Köpfe, die sich schütteln, als seien sie nicht wahr; vorgereckte Hälse, als wolle man mit der Stirn durch eine unsichtbare Wand stoßen, hinter der endlich die Aufklärung der Dinge sichtbar werde. Sichtbar wird nur der Taumel.

Siziliens König Leontes hält seine Frau Hermione, die neuerlich Schwangere, per Sekundenblitz für die heimliche Geliebte seines böhmischen Königsfreundes Polixenes. Eine falsch interpretierte winzige Wahrnehmung, und Eifersucht reißt sich los. Anklage, Gericht, Tod. Shakespeare als Vorfühler aller geschichtlichen Schauprozesse - die stets auch die Opfer fassungslos machten, weil der erhobene Vorwurf das Maß jeder Verteidigung überschritt.

Wellemeyers Sizilien (Bühne: Matthias Müller) ist eine goldglänzende Hochmauer, davor eine dauerrauchende Höflingsschar, ein schwitzendes Federn zwischen Gewissen und Gehorsam. Wolfgang Vogler als Leontes scheint sich für Momente gegen seinen Eifersuchtsverdacht zu wehren, ein nervöses Handjucken, ein Aufbäumen, ein Stöhnen, eine ungelenke Lachmaske, aber bald wird diesem Herrscher keine Geste zu groß, kein Brüller zu laut, keine Erregung zu lächerlich sein, um raumgreifend zum panischen, geifernden Verderber zu werden.

Siziliens Goldkulisse wird krachend bersten, der Riss durch die noch eben so festgefügte Welt legt nun den Nebelblick frei auf Böhmen. Bei Shakespeare liegt es am Meer: Nichts ist unmöglich, wenn Dichter träumen; Spielfelder sind nicht Sklaven der Geografie. Was in Böhmen gespielt wird, ist eine Art balkanisches Volksfest, zu Musik zwischen Rock, Blues und Kusturica-Trompeten. Der Wohlstand ist hier ein alter Pkw-Schlitten; Heimat besteht aus Folklore und einem Wohnwagen, aus Schnaps und den dazugehörigen armen Schluckern. Und aus Shakespeares Rüpeln, die klauen und kalauern (speziell der fallstaffisch auftrumpfende, rampenstürmende Raphael Rubino). Zwischendrin König Polixenes' Sohn (Gitarre, Romantik: Dennis Herrmann) und dessen geliebte Schäferin Perdita - in Wahrheit Leontes' Tochter; der hatte sie, den vermeintlichen Bastard, vor 16 Jahren fernab aussetzen lassen.

Shakespeare lässt auch Böhmens König (Christoph Hohmann) diktatorisch-stupide aufflammen, wider die standesbeleidigende Liaison seines Sohnes. Böhmen also ist doppelbödig, darunter liegt Sizilien. Und erst Untertanenlist lässt alle Feindschaften aufweichen unterm Schneehimmel, und eine Statue der einst in den Tod getriebenen Hermione steigt beglückt aus ihrer Holzverschalung, nun zugerüstet für eine Frieden findende Ewigkeit. Reue und Versöhnung erweichen selbst Steine.

Patrizia Carluzzi ist als Hermione von furchtfreier Lieblichkeit, als Angeklagte dann ganz Ergebenheit ins Schicksal, umschmückt aber mit Stolzesglanz; als Perdita verbindet sie kecke Lust mit traurig-klugem Instinkt für die sozialen Klippen ihrer Liebe. Michael Schrodt, erst Höfling in Sizilien, dann in Böhmen, überzeugt mit der leise-ehrlichen Intelligenz einer grauen Eminenz. Und besonders Alexander Finkenwirth als Schäfersohn wirbelt sich aufgedreht komisch in die Rolle der tumben wie treuherzigen, der tatentollen wie tapsigen Volksfigur.

Aus der kalten Region des Reichtums geht es bei Wellemeyer in die deftige Volksstückniederung, von dort aus in die laue Freudennacht des Märchens. Das ist spannend erzählt, hat Witz fürs Wüste und Wilde und glaubt an den Zauber der Begütigung. Die so plötzlich hereinschweben kann, wie meist das Böse hereinbricht.

Nächste Vorstellung: 15. Februar

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