Marx lesen im Jahr 2013

  • Anne-Kathrin Krug
  • Lesedauer: 3 Min.

»Größter Sohn des deutschen Volkes wurde in Karl Marx Stadt geehrt« titelte das ND am 14.03.1983 zum 100. Todestag von Karl Marx. »Tausende Werktätige versammelten sich am Karl-Marx-Monument der Bezirksstadt Karl-Marx-Stadt«, setzte der Beitrag fort. Pünktlich zu diesem Todestag wurde auch eine 20-Mark-Gedenkmünze herausgegeben. Damals war ich gerade mal ein Jahr alt. Das alles würde es heute so nicht mehr geben.

Die Emphase von Marx als größtem Sohn des deutschen Volkes würde im deutschsprachigen linken Spektrum bei einigen einen Aufschrei auslösen. (Bei mir auch.) Karl-Marx-Stadt gibt es dem Namen nach nicht mehr. Und das Wort »Werktätige« ist gänzlich aus dem Sprachschatz verschwunden. Es liegt heute auch nicht nahe, dass sich in Chemnitz tausende »lohnabhängig Beschäftigte« vor einem Karl-Marx-Monument zu seinem Todestag versammeln. Heute wäre noch denkbar, dass ich mir im Internet eine 20-Mark-Gedenkmünze aus DDR-Zeiten für 14,50 Euro plus 5,45 Euro Versandgebühr bestelle. Aber warum sollte ich das tun?

Ich muss feststellen, dass Marx als Person für mich nicht sonderlich von Interesse ist. Was bringt es denn zu wissen, dass er Jenny geheiratet hat, mit Engels saufen war und lange Zeit seines Lebens Furunkel an einer delikaten Stelle seines Körpers hatte? Höchstens sein Wirken als politischer Akteur wäre interessant. Allerdings gibt es eine Unmenge von Biografien politischer Akteur_innen, die es sich ebenfalls lohnt zu lesen. Warum sollte ich bei ihm anfangen?

Nein, es sind vielmehr seine Texte, zu denen heute immer noch, hier und da sogar anders als früher, Zugang gefunden werden kann. Er hat uns, zusammen mit Engels, eine meterlange Fundgrube von Gedanken, Analysen, Briefen, Zeitungsartikeln etc. hinterlassen, die in Bänden der MEW und MEGA gesammelt sind. Und das Ganze wird immer noch gelesen, besonders »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«. Die Krise 2008 hat die größte Kapital-Lektürewelle verursacht, die ich je erlebt habe. (Ich gebe zu, ich habe bisher nur diese Welle bewusst erlebt. Aber sie hält noch an!) Es liegt wohl eher daran, dass sich bei Marx Analysen der kapitalistischen Gesellschaft und deren Funktionsweise finden lassen, die doch irgendwie treffen. Solange wir immer noch in dieser Gesellschaft leben und solange wir in irgendeiner Weise immer noch durch sie geprägt sind, werden besonders diese Bücher (drei Bände!) von Interesse für uns sein.

Gleichzeitig wird aber auch immer betont, dass Marx mit seinen Texten angeblich mit Vorsicht zu genießen sei. Wir hätten ja schließlich alle gesehen, wohin seine Ideen geführt haben. Da wird nicht selten eine Linie zwischen Marx, Stalin und Honecker aufgemacht. Es wird gesagt, Marx habe den Sozialismus entworfen. Er sei ein Gegner der Freiheit, ein Vordenker des Gulag. Und schließlich habe er etwa 50 Prozent der Gesellschaft ganz und gar ignoriert, nämlich die Frauen. Aber was davon ist wirklich überzeugend?

Das kann nur sagen, wer seine Texte liest, diskutiert, hinterfragt und versucht, sie sowohl vor dem damaligen wie vor dem heutigen Hintergrund zu verstehen. Aber auch wenn ich seine Texte heute noch aktuell finde, werde ich mir erst mal keine Marx-Gedenkmünze bestellen.

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