»Wir sind der Abraum«

Volker Brauns »Die hellen Haufen« am Theater Rudolstadt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Aufstand bekennt Farbe: Er spuckt Blut. Das einzige also, was er ganz schnell kann: Er kann nicht mehr. So wird es rasch wieder finster um die hellen Haufen. Jene Arbeiter, die aufgebrochen waren im Mut ihrer Verzweiflung: Nun brechen sie zusammen. Ihre so neuen, körnigen Forderungsworte waren Gerechtigkeit und Grundeigentum als Volkseigentum, aber die noch neueren Worte des verordneten Kapitalismus legen sich gewalttätig drüber: Abfindung und Arbeitsamt. Alles wieder hurtig beim alten, und alle wieder im Joch der neuen Zeit: Werkschließung, Abwicklung, Umschulung, Ausverkauf. Die ans Widerstehen geglaubt hatten, am Ende sitzen sie im Dreck der sauberen bürokratischen Lösung - nachdem das Blut getrocknet, die Polizei- und Militärmacht abgezogen ist. Statt Rückgrat wieder der Bauchladen, um sich billiglohnend auf Restmärkten zu verkaufen.

Volker Braun verwandelt in seiner Erzählung »Die hellen Haufen« den vergeblichen Arbeitskampf der Kalikumpel von Bischofferode - es ist zwanzig Jahre her - in eine Phantasie des tätigen Zorns. Der auch andere Betriebe, bis nach Mansfeld und Leuna hinüber, ja ganz Mitteldeutschland zu einer so nie gesehenen Landschaft formt: Der Zug der Zeit, das sind - plötzlich, aber erwartet - die von überall herströmenden Züge der Tausenden, die den Kolonisatoren das Treuhandwerk legen werden. Arbeiter: klasse! Ein Kriegszug für den Frieden, der Arbeit heißt; künftige Grundgesetze: »Nicht den Gewinn maximieren, sondern den Sinn! Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Grundentscheidungen! Die Arbeit ist gerecht zu verteilen, unter allen, die Anspruch haben!«

Aufruhr!

Dann das besagte Ende. Aber halt, nicht die Staatsgewalt beendet den Massenprotest - der Dichter selbst hält ein. Hält so rigoros ein, wie er rigoros ausgeholt hatte. Er widerruft, was nie stattfand. Aufstand? Alles nur Dichters Traum - den er fabulierend in jene Schlacht führte, ohne die eine Gerechtigkeit, die ins Größere greifen will, nicht zu haben ist. Ja, ohne eine unvornehme Basis des Zuschlagens gibt es keinen edlen Überbau. Das war doch immer so. Für die Unteren sind obere Götter nie einzunehmen gewesen, also mussten diese Unteren deren Paläste einnehmen. Aber das Ende war nie ein gutes, so war's leider auch immer, dies lehren die Menschenhaufen der Geschichte - erst heftige horizontfüllende Heere, ganz heißgestimmt, dann kalt über den Haufen geschossen.

Volker Braun verwirft am Ende, was er entwarf. Der Aufstand: zurückgenommen, nur eine Fiktion, das Nichtgeschehene, das Unvorstellbare. Die Realität eben. Die war 1993 so: Es zog nur ein kleines Häuflein wacker wütender Bischofferöder nach Berlin. Machten sich auf den Weg und waren doch, trotz Kampf: auf der Strecke Gebliebene. Aufstand? Das ist offenbar das Zeit- und Westgesellschaftsfremdeste, was sich momentan denken lässt - wenn man denn vernünftig denkt, also aus guten Gründen feige, demnach gar nicht mehr. Helle Haufen - nur ein poetischer Möglichkeitsfleck auf der Schwarzmalerei Zukunft.

Steffen Mensching hat Brauns Erzählung am Theater Rudolstadt auf die Bühne gebracht. Kein Drama, kein Spiel im gefühlslockenden Sinne, keine personell explosive Zusammenballung von Stoff, sondern eher eine Art Oratorium. Schauspieler als zu Protokoll gebende Wechselstimmen. Ein Bericht. Ein nackter Bericht. Sprich du, dann du; kommt, wir nehmen uns beim Wort wie an einer Hand oder einer geballten Faust, aber nehmt nichts für bare Münze, alles bloß: Was wäre, wenn ... Spiel, Einbildung. Bis alle wieder daheim sind. Am lang ausgestreckten Arm der Freiheit. Freiheit, die an so einem Arm darin besteht, hilflos und bodenlos herumzustrampeln.

Theater als Anregung fürs Gespräch darüber, wie elendig befriedet wir sind. Satt. Mitfühlig, ja - aber doch nie ausfallend in der Empörung, mit Kritik nie einfallend in den Grundbau der Gesellschaft.

Mensching hat das Gedichtete verknappt. Neunzig Minuten. Brauns Wesen freilich blieb: der , fordernde und bohrende Gestus gegen die Wirklichkeiten, das Lapidare, der Schub von Blöcken, die Stockungen, die Sprünge. Auf pyramidal angeordneten Platten, Treppenstufen zwischen Oben und Unten (Bühne: Sabine Pommerening), erzählen die »Bitteröder« - so wie Brecht in der »Mutter« episch und doch rhythmisiert Kunde gab vom 1. Mai. Auch eine rote Fahne weht. Eine nur. Und bald schon starren die Geschichtsenden ins Leere.

Im Hintergrund spielen die Thüringer Sinfoniker Saalfeld-Rudolstadt (Musik: Rolf Fischer), als wünschten sie jeder Zornwelle Schwung und Dissonanz von Dessaus oder Eislers Gnaden. Vorn recken Mitglieder des Seniorentheaters der Stadt ihre behelmten Köpfe aus dem Orchestergraben. »Wir sind selber der Abraum«, heißt es im Text.

Die sechs Akteure: Verena Blankenburg mutterklug und weibskräftig, Laura Gottner jugendlich forsch, Hans Burka eher melancholisch oder gewerkschaftskühl, Horst Damm in leiser Zähigkeit alterstapfer, David Engelmann pathosnah, fast bei Schiller, Markus Seidensticker mit bürogestempeltem Anhauch.

Ostdeutscher »Vormut« (Braun) hatte einst einen Staat gestürzt, später jedoch: kein wirklicher Mut mehr, der einen gesellschaftsstiftenden Nachhall oder utopischer: einen Vorhall gebracht hätte. Ein Zug der Tausenden in Leipzig gab 1989 ein Signal, dem dann, gegen die Demütigung durch den ausverkaufenden Westen, nichts Aufrüttelndes folgte. In »Die hellen Haufen« holt Braun in sein Werk, was er von Büchner weiß: Nur »in der Dichtung konnte er radikal sein und dem Druck der Erfahrung mit allen Sehnen, allem Sehnen standhalten, um jenes subversive, alles Bestehende befragende Verlangen auszudrücken«.

Vom nicht erfolgten Aufstand der Arbeiter heißt es am Ende freilich auch fragend, was wohl bitterer zu bewerten ist: dass es ihn nicht gab oder dass er Realität hätte werden können. Fordere keiner zu schnell das Blut, das er selber gern bei sich behielte.

Es gehört zu den Taktiken Volker Brauns, seine Fragen laut und offen zu stellen, doch sie ebenso laut offen zu lassen. »Das Wirklichgewollte« (wie eine der Erzählungen des Dichters heißt) - ist es auch das wirklich Gewollte? Das Zuschlagen also, die Gewalt, die Konsequenz von Toten gar? In Rudolstadt erklingt zum Schluss das Lied vom Steiger, er kommt mit seinem Lichtlein, die Stirnlampen der Spieler leuchten, das Publikum applaudiert im Takt der Bergmannshymne. Rührung, Rührung, Rührung - und irgendwie das Hoffnungsgebet, es möge sich alles Beben der Zeit letztlich doch im Guten beruhigen.

Das Gute, was wäre das? Vielleicht diese Logik: Dass die Enttäuschung immer der Beginn aller Konservativen ist und bei den Linken immer alles in Enttäuschung endet - und somit alle Beteiligten an der Zeit leiden und just darin überein kommen könnten. Für irgend einen Frieden.

Solch versöhnender Gedanke (Braun, Mensching sprechen ihn keinesfalls aus, aber lösen ihn aus) - er ist das Angebot einer Gesellschaft, in der es offenbar mehr und mehr die Notausgänge sind, die den Weg ins Freie weisen.

Nächste Vorstellung: 29. März

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