Schatten der Vergangenheit

Ulrich Woelk ergründet, »was Liebe ist«

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine klassische Geschichte mit Rahmen. Am Ende nämlich schließt sich der Kreis, und man könnte mit der Lektüre von vorne beginnen. »Dafür, dass er Epileptiker ist, hat er seinen Weg gemacht. Er ist sechsunddreißig, promovierter Jurist und hält zehn Prozent der Anteile des elektronischen Familienunternehmens, das sein Großvater in den dreißiger Jahren gegründet hat.« So beginnt im Herbst 1999 die Geschichte von Roland Ziegler.

Der ist von Frankfurt nach Berlin gereist, um an einem Treffen teilzunehmen, das der damalige Kanzler Schröder mit Vertretern von Wirtschaft und Industrie anberaumt hat, um sich über mögliche Entschädigungszahlungen deutscher Unternehmen an jüdische Zwangsarbeiter aus der NS-Zeit zu verständigen. In einem Café begegnet Ziegler einer jungen Jazz-Sängerin. Und es ist Liebe auf den ersten Blick. Auch wenn da als finstere Figur im Hintergrund ein alter Freund und Liebhaber eifersüchtig über Zoe zu wachen versucht. Die beiden verbringen eine Nacht mitein-ander, verlieren sich kurzzeitig aus den Augen, um schließlich eine ganze Woche nach Holland zu reisen, zunächst nach Amsterdam, wohin Ziegler wegen der Verstricktheit seines Unternehmens in NS-Politik fährt, um sich Aufklärung zu erhoffen, dann an die Küste nach Domburg - nicht zuletzt, um hier eine alte Tante, das schwarze Schaf der Familie, zu treffen.

Die Love- und Bedtime-Geschichte verwandelt sich mehr und mehr in ein untergründiges Familien-, Beziehungs- und Gesellschaftsdrama. Denn am Ende erleidet Zoe ebenfalls einen Epilepsie-Anfall - das, wovor sich Roland Ziegler stets gefürchtet hat, weshalb er peinlich genau die Dosierung seiner eigenen Medikation einhält. Was sich im Krankenhaus bereits andeutete, wird für Roland schließlich zur erschreckenden Gewissheit. Er entdeckt, dass Zoes in Holland lebende Mutter auch seine eigene ist, die früh die Familie verlassen hat - womöglich mit guten Gründen, weil sie das Schweigen über die dunklen Untergründe des Unternehmens nicht ertragen konnte. Bei einem weiteren Besuch der alten Tante erfährt er, dass an deren ehemaligem Geliebten, einem polnischen Zwangsarbeiter eben aus der Firma, von den Nazis ein Exempel statuiert worden ist: Tod durch Erhängen. Das hatte die Tante einmal Zieglers Mutter erzählt, woraufhin diese die Familie hinter sich ließ.

Und Roland? Zwölf Jahre sind seit diesen dramatischen Ereignissen vergangen. Er ist verheiratet mit einer Jugendfreundin, mit der er zwei Kinder hat, und sie bestatten die verstorbene Tante aus Holland auf See.

Niemand weiß etwas von der alten Liebesgeschichte, die Roland wohl mit Macht verdrängt hat: »Eine kurze Geschichte - so kann man es nennen. So kurz, dass es sie eigentlich gar nicht gibt. Anke weiß nichts von Zoe - niemand weiß etwas von ihr. Niemand außer seiner Mutter, die vor vier Jahren an Krebs gestorben ist. Er ist der Einzige, der die Wahrheit kennt. Selbst Zoe kennt sie nicht, ihre eigene Wahrheit ... Für sie war es genau das: eine kurze Geschichte. Sie war eine Woche lang mit einem Mann zusammen und dann nicht mehr. Das ist alles, was sie weiß.«

Endlich auf der letzten Seite von Ulrich Woelks neuem Roman, dem man vielleicht den Vorwurf einer starken Konstruiertheit nicht ersparen kann - aber ist nicht alle Literatur (auch) Konstruktion? - , wird der Leser an den Anfang zurückgeführt, bricht die Verdrängung auf und erzählt Roland seiner Frau diese zurückliegende Liebesgeschichte: »Anke sitzt nachdenklich auf einer Bank. - «Ich möchte dir eine Geschichte erzählen», sagt er. - «Eine Geschichte? Was für eine Geschichte?» - «Eine traurige Geschichte. Eine Liebesgeschichte.»«

Ulrich Woelk: Was Liebe ist. Roman. dtv. 300 S., br., 14,90 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal