Traumtornado

Fritz Rudolf Fries schickt zwei alte Männer auf Reisen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

»Am Ende, erwiderte Arronax, erwachen wir morgen früh in unseren Betten und alles war nur ein Traum. Das täte mir leid, sagte Archie.«

Der Leser kann dem nur zustimmen. Denn bis dahin, bis Seite 155 im Buch, ist so viel Verrücktes geschehen, dass es der Fiktion des Autors Abbruch täte, plötzlich alles bloß als Traum hinwegzupusten. Die Bilder sind klar, die Sprache funkelt, jedes Wort ist mit Bedacht gesetzt. Andererseits, wenn Fritz Rudolf Fries seine phantastische Geschichte irgendwie erden will ... Auf der letzten Seite gelingt es ihm mit ganz wenigen Worten, sowohl der Realität als auch der Macht seiner literarischen Imagination Genüge zu tun ...

Diese Imaginationskraft - ein Geschenk! Jeden Tag könnte sich Fritz Rudolf Fries in seinem Haus in Berlin-Petershagen dazu beglückwünschen, auch wenn es manches gibt, was ihn bedrückt. Die beiden Männer im Buch - Arronax und Archie sind ihre Künstlernamen und vielleicht hat sich der Autor gar in ihnen verdoppelt - spielen immer mal wieder selbstironisch auf die Tücken des Alters an, auf den nicht abzuschüttelnden Gedanken, dem Grabe mit jedem Tag ein Stück näher zu rücken.

»Mit einem Mal scheint dir das gelebte Leben wie ein Irrgarten, wie ein Labyrinth, aus dem man heraus möchte, um in der Wiederholung alles besser zu machen -, um es noch einmal auszukosten,«

Ernste Sätze dieser Art leuchten hin und wieder aus den Tiefen des Buches auf, um schnell wieder in einer bunten Handlung zu verschwinden. Die heitere Leichtigkeit soll ja ihre Kehrseite sein, getreu dem Zitat aus Grimms Märchen von den Bremer Stadtmusikanten: »Etwas Besseres als den Tod findest du überall.«

Dieser Satz ist Leitmotiv und Fazit des Romans. Indes: Etwas Besseres als den Tod haben Arronax und Archie doch schon lange gefunden in ihren geistvollen Gesprächen, der Herzlichkeit, die sie ein-ander entgegenbringen. Aber plötzlich geschieht ihnen etwas Großartiges: Per Telefon wird ihnen eine Weltreise geschenkt, wenn es auch, wie sich herausstellt, »nur« eine Fahrt von New York in die texanische Grenzstadt El Paso ist. Arronax mit seiner Krankenpflegerin Kathleen am Steuer wird sie von Westen, Archie mit seinem Sohn Piet auf der Ostroute erreichen. Wer zuerst da ist, soll 30 000 Euro bekommen. Jules Verne lässt grüßen.

Ein solches Abenteuer darf man sich doch nicht entgehen lassen. Spannend freilich die Frage, wer diese Reise zu welchem Zweck finanziert. »Eine Verschwörung, vermute ich, Pozor!«, sagt Archie. Aber er und sein Freund sind alt genug, um vor sowas keine Angst mehr zu haben. Diverse Geheimdienste, Regierungsinteressen, dunkle Geschäfte - was derlei Verwicklungen betrifft, wird der Leser bei der Lektüre auf seine Kosten kommen. Und den beiden Alten wird es nur Gegenstand staunenden Interesses sein, wie sich wieder mal etwas unvermutet verknüpft, weil jemand im Hintergrund Fäden zieht. Sind sie nur Spielfiguren? Sind sie nicht, wenn sie es nicht wollen! (Auch wissen sie ja den Autor im Hintergrund, der sie aus jeder vertrackten Situation irgendwie wieder rausholen wird.)

Aber dass da wirklich etwas gänzlich aufgeklärt werden könnte, bildet euch das bloß nicht ein. Arronax' Ehefrau, die in den 60er Jahren auf einem Westberliner Bahnhof verschwand, weshalb er bald Besuch von zwei Herren mit Klappkarten erhielt, könnte sie womöglich von einem jungen Mann ins »Kempinski« eingeladen worden sein und bei einem Autounfall das Gedächtnis verloren haben? Oder stand sie in einem »Dienst«, war ihr eine Aufgabe zugewiesen? In der Äbtissin eines Karmeliterklosters in El Paso glaubt Arronax sie wiederzufinden, wie überhaupt seine verflossenen Liebschaften in neuen Rollen auftauchen. Aber Kathleen gibt auf ihn acht. Er weiß, dass sie ihn nicht nur für eine Dissertation ausspioniert, sondern auch noch einen Freund bei einem geheimen Institut in London hat. Dort wird an der Umsiedlung von Menschen auf andere Planeten geforscht, da können zwei Kunstdiebstähle - Warhol und Delvaux - kein Zufall sein, wie eben überhaupt zwischen allem und jedem Zusammenhänge bestehen. »Nichts ist ärger, als wenn das Leben anfängt, die Kunst zu imitieren.«

Die drei Kritiker aus Roberto Bolaños postum veröffentlichtem Roman »2066« tauchen auf, die sich dem bedeutenden deutschen Schriftsteller Archimboldi gewidmet haben. Sollte das nicht gar Archie sein, dem nun ein Nobelpreis zustehen würde? Dessen Sohn Piet würde gern mit Roman Polanski einen Film über Frida Kahlo und Leo Trotzki machen. Noch weitere Filmideen geistern durch den Text. Autorennamen - Carpentier, García Márquez, Grass, Musil, Pynchon und »die Nobelpreisträgerin«. Des 11. September ist natürlich auch zu gedenken.

Was können wir, »zu Beginn des 21. Jahrhunderts ... von der Literatur erwarten« und wie ist es mit jener untergegangenen DDR? Erinnerungen, Reminiszenzen - dazwischen ein wirklicher Wirbelsturm. Während die ganze Zeit ein Traumtornado den Roman durchtost. Was die Frage nicht beantwortet, ob die beiden alten Männer wirklich nur träumen. Der Autor jedenfalls hat sich klaren Geistes auf Höhenflüge der Phantasie begeben - und damit sich selbst wie seinen Lesern eine spannende Zeit geschenkt. Ein fulminanter Roman.

Fritz Rudolf Fries: Last Exit to El Paso. Roman. Wallstein Verlag. 192 S., geb., 19,90 €.

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