Einzelhaft für freie Radikale

Sind Nahrungsergänzungsmittel nötig, um Zellen vor oxidativem Stress zu schützen?

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.
Auch wer gesund lebt, lebt gefährlich. Denn selbst bei alltäglichen Stoffwechselprozessen entstehen im Körper zellschädigende freie Radikale, die man, wie es heißt, durch spezielle Nahrungsergänzungsmittel neutralisieren kann. Eine Studie nährt Zweifel an dieser »Theorie«.

Freie Radikale sind reaktive Sauerstoffverbindungen, die bei biologischen Vorgängen eine wichtige Rolle spielen. Sind davon in einer Zelle allerdings zu viele vorhanden, gerät diese in ein Ungleichgewicht, das man »oxidativen Stress« nennt, da hierbei wichtige Zellbausteine (Proteine, DNA, Lipide etc.) oxidiert und damit geschädigt werden.

Bereits 1956 stellte der amerikanische Gerontologe Denham Harman die Hypothese auf, dass freie Radikale ursächlich für den Alterungsprozess seien. Später wurde oxidativer Stress zudem mit verschiedenen Erkrankungen in Verbindung gebracht: Krebs, Demenz, Rheuma, Arteriosklerose, um nur einige zu nennen.

Aber wie heißt es so schön: »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« In diesem Fall kam die »Rettung« von den Herstellern von Nahrungsergänzungsmitteln, die neben zahllosen anderen Produkten auch sogenannte Antioxidantien oder Radikalfänger anbieten, von denen wiederum die Vitamine C und E die bekanntesten sind. Damit könne man freie Radikale dauerhaft binden und so unschädlich machen, verspricht zumindest die Werbung, der laut einer Marktstudie auch viele Verbraucher folgen. Immerhin liegt der weltweite Umsatz von Antioxidantien jährlich bei rund vier Milliarden Dollar, Tendenz steigend.

Wie aber kann man überhaupt feststellen, ob eine Zelle oxidativ geschädigt ist? Zu diesem Zweck wird gewöhnlich der Oxidationszustand eines Moleküls mit Namen Glutathion untersucht, welches die Zelle vor reaktiven Sauerstoffverbindungen schützt, indem es selbst oxidiert wird. Große Mengen an oxidativem Glutathion gelten demnach als Indiz für eine biochemisch bedingte Zellschädigung.

Bislang habe man sich allerdings darauf beschränkt, das oxidierte Glutathion in zerstörten Zellen zu messen, sagt Tobias Dick vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg: »Dabei geht jegliche räumliche Auflösung verloren«. Und so wusste bis vor kurzem auch niemand, wo genau sich das oxidierte Glutathion in der Zelle befindet. Man nahm einfach an, dass es dort verbleibt, wo es entsteht: im Zellplasma.

Mit Hilfe neu entwickelter Biosensoren, die durch Lichtsignale den Oxidationsstatus des Glutathions in der lebenden Zelle anzeigen, konnten Dick und seine Kollegen nun erstmals die Wege der verdächtigen Substanz innerhalb der Zelle in Echtzeit verfolgen. Das Ergebnis war insofern überraschend, als das oxidierte Glutathion keineswegs im Zellplasma verbleibt. Es wird vielmehr schnellstmöglich in abgegrenzte Hohlräume (Vakuolen) transportiert und dort gewissermaßen sicher weggeschlossen.

Dadurch ist das Zellplasma, in dem alle wichtigen Stoffwechselvorgänge der Zelle ablaufen, vor oxidativen Schäden geschützt. Wolfgang Becker-Brüser, Redakteur der pharmakritischen Zeitschrift »Gute Pillen - Schlechte Pillen«, zieht angesichts der neuen Forschungsergebnisse eine ernüchternde Bilanz: »Alle bisherigen Studien, die den oxidativen Stress von Zellen mit Hilfe von Glutathion bestimmt haben, sind wertlos. Und das sind viele.«

Wie aber steht es um die Radikalfänger selbst? Auch hierzu lieferte ein Versuch der Heidelberger Forscher wertvolle Erkenntnisse. Dabei wurden Fruchtfliegen mit einem angeblich wirksamen Antioxidans in unterschiedlicher Dosierung über längere Zeit gefüttert, ohne dass daraufhin in irgendeinem Gewebe die Zahl der freien Radikale zurückgegangen wäre. Im Gegenteil, in den »Zellkraftwerken«, den sogenannten Mitochondrien, nahm sie teilweise sogar zu. Zwar handelt es sich hier »nur« um Grundlagenforschung. Dennoch wäre mit Blick darauf etwas weniger Euphorie im Umgang mit Antioxidantien angebracht, zumal diese, im Übermaß konsumiert, nachweislich zu gesundheitlichen Schäden führen können.

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