In Tschechien sorgt der bisher größte Prozess gegen Verantwortliche für tödliche Schüsse an der früheren Westgrenze der CSSR für einiges Aufsehen.
Bislang haben, dazu relativ selten, nur Soldaten vor Gericht gestanden. Dieses Mal sind es erstmals sechs Offiziere, unter ihnen der damalige Kommandeur der Grenztruppen und stellvertretende tschechoslowakische Innenminister Frantisek Sadek. Der in Brno verhandelte Fall liegt mehr als 27 Jahre zurück. Am 23. Mai 1978 war eine Gruppe von Gymnasiasten aus Ricany bei Brno zu einer Reise nach Weimar in der DDR aufgebrochen. Doch dort kamen sie nie an. Bei Cheb enterten die drei mit Jagdwaffen ausgerüsteten Brüder Milan, Robert und Vaclav Bares den Bus, mit dem die jungen Leute unterwegs waren. Sie zwangen den Fahrer, zum Grenzübergang Pomezi nad Ohri zu fahren, über den sie nach Bayern flüchten wollten. Um Scharfschützen gezieltes Feuer auf die Entführer zu erschweren, zwangen die Brüder die Gymnasiasten, sich als lebende Schilde an den Fenstern des Busses aufzustellen.
Am Grenzübergang begannen viele Stunden dauernde Verhandlungen. Schließlich gaben die Behörden in der Nacht scheinbar nach. Sie sagten den Entführern die Ausreise nach Westdeutschland zu. Daraufhin ließen die drei Brüder alle Gymnasiasten frei. Nur der Busfahrer verblieb bei ihnen, er sollte sie nach Bayern bringen. Doch es kam anders. Ein gepanzertes Fahrzeug der Grenztruppen und mehrere Schützen nahmen den Bus noch auf tschechoslowakischem Gebiet unter Feuer.
Laut Unterlagen, die das mit der Untersuchung beauftragte Amt zur Dokumentation der Verbrechen des Kommunismus (UDV) zusammengetragen hat, war der Bus anschließend durchlöchert wie ein Sieb. Darin lagen zwei Tote, Milan Bares und der Fahrer des Busses, der eine Frau und einen zweijährigen Sohn hinterließ. Die überlebenden Entführer wurden kurz danach verurteilt.
Robert Bares erhielt dabei die Todesstrafe und wurde umgehend hingerichtet. Seine Bruder Vaclav bekam 25 Jahre Gefängnis. Den sechs damals in den Fall verwickelten Offizieren wird nun vorgeworfen, dass sie die Aktion bewusst planten, obwohl sie damit gegen ihre eigenen Vorschriften verstoßen hätten. In denen findet sich laut UDV folgende Passage: »Wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und durch Schüsse das Leben der Geiseln gefährdet würde, muss das Fahrzeug ins Ausland gelassen werden...« Deshalb, so argumentiert die Anklage, könnten sich die Offiziere nicht auf einen Befehlsnotstand berufen. Sie hätten im eigenen Ermessen gehandelt und sich damit selbst nach den 1978 geltenden Gesetzen strafbar gemacht. Wenn es zur Verurteilung kommt, droht dem früheren Vizeminister Sadek als oberstem Verantwortlichen die höchste Strafe.
Allerdings gab es im Mai 1978 zumindest zeitweise noch eine Alternative, mit der die Verantwortlichen das Blutvergießen zu vermeiden hofften. Sie wollten von den DDR-Kollegen deutsche Uniformen ausleihen, die Geiselnehmer mit deren Hilfe glauben machen, sie seien bereits im Westen und sie dann verhaften. Das sei jedoch daran gescheitert, dass die benötigten Uniformen nicht mehr rechtzeitig aus der DDR herangeschafft werden konnten.
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