Wie ein kleines Erdbeben

Das Mittelrheintal ist besonders stark von Güterzuglärm belastet - längst regt sich Widerstand

  • Hans-Gerd Öfinger, Assmannshausen
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Lärm von Güterzügen wurde über Jahrzehnte als Thema von der Politik ignoriert. Das rächt sich: Im Mittelrheintal, einem der wichtigsten Eisenbahnkorridore Europas, hat der Zugverkehr stark zugenommen. Entlang der Strecke ist der Alltag fast unerträglich geworden.

Das Weltkulturerbe Mittelrhein: ein beschauliches Tal mit viel Natur, Schieferhängen, Weinbergen, alten Burgen, dem legendären Loreleyfelsen und idyllischen Ortschaften. Ein Touristenmagnet, das vor allem im Sommerhalbjahr Massen von Touristen aus Nah und Fern anlockt - von japanischen Pauschalreisenden über sportliche Wanderer bis zu weinseligen deutschen Kegelclubs.

Eine imposante Szenerie - bis in der Ferne ein leises Rauschen zu hören ist, das immer lauter wird. Ein Güterzug kommt näher. »Plötzlich meint man, neben einem Presslufthammer zu stehen. Die Erschütterungen werden je nach Bodengefüge über die Betonschwellen auf das alte Gleisbett weiter gegeben«, sagt David Schneider aus Kestert, einer Gemeinde in Rheinland-Pfalz nahe der Loreley. »Es ist wie ein kleines Erdbeben.«

Das überwiegend enge Mittelrheintal zwischen Mainz/Wiesbaden und Bonn, beidseitig doppelgleisig und elektrifiziert, gehört zu Europas meist befahrenen Eisenbahnkorridoren. Derzeit passieren täglich gut 550 Züge das Tal. Die allermeisten sind laute und immer länger werdende Güterzüge. Nach der für 2017 geplanten Eröffnung des Gotthard-Basis-Tunnels in der Schweiz werden diese rund 150 Streckenkilometer als Nadelöhr der Fernverkehrsachse Genua-Rotterdam noch mehr Verkehr anziehen. Fachleute erwarten dann pro Tag gut 700 Züge rund um die Uhr. Dazu kommen noch Lärm und Abgase von zwei Bundesstraßen und von tuckernden Schiffsmotoren auf der wichtigsten Wasserstraße Mitteleuropas.

Für Anwohner wie David Schneider eine Horrorvorstellung, die die aktuellen Qualen noch übertrifft. »In einigen Häusern kann man nicht mehr schlafen«, beklagt er: »Bei manchen übertönt der Lärm bei geschlossenem Schallschutzfenster die Fernseher.« Das macht auch in Kestert krank. »Immer wieder kehrende Lärm- und Erschütterungsbelastungen versetzen den Körper unterbewusst in einen permanenten Stresszustand.« Es sei schon »merkwürdig, wenn in einer 630-Seelen-Gemeinde innerhalb von drei Jahren zwei Mittdreißiger an einem Herzinfarkt sterben«, so Schneider.

Wer kann, flieht aus dem Tal und richtet sich auf der Höhe ein neues Domizil ein. Kommunalpolitiker beklagen Bevölkerungsschwund. Viele Häuser stehen leer, Immobilienpreise fallen in den Keller. Aber es gibt sie noch - die Menschen, die ihrer Heimat verbunden sind und bleiben wollen oder müssen. »Es ist unsere Existenz, um die wir kämpfen«, sagt Birgit Berg aus die Assmannshausen bei Rüdesheim. Ihr Hotel ist seit 100 Jahren in Familienbesitz. Gäste beschweren sich zunehmend über die fehlende Nachtruhe. Ohne Touristen werde Assmannshausen »ein dunkles, ödes Loch werden, in dem keiner mehr leben kann oder möchte«. Die Einwohnerzahl sei binnen weniger Jahre von 1400 auf 1000 geschrumpft. Doch die rührige Geschäftsfrau will bleiben und kämpfen.

Manfred von Stosch aus Oestrich-Winkel ist auf eine Vermietung seiner Immobilie angewiesen. »Wenn die Interessenten Gleise und Züge sehen, drehen viele sofort wieder um«, sagt er. Auch ihm setzen die Erschütterungen zu: »Die Blumen in der Vase und die Gläser im Schrank wackeln.«

Längst hat sich im Mittelrheintal eine Protestbewegung formiert. Pionier und Motor ist der Gemeinderat Willi Pusch (SPD) aus dem Wallfahrtsort Kamp-Bornhofen. Er trommelte aus persönlicher Betroffenheit vor zwei Jahrzehnten die ersten Aktivisten zusammen und sammelt als Vorsitzender der Bürgerinitiative gegen Umweltschäden durch die Bahn Mitstreiter quer durchs politische Spektrum. »Wir sind eines der reichsten Länder der Erde und leisten uns noch Güterwaggons mit lauten Bremssystemen wie im Mittelalter - nämlich ein Klotz, der auf ein Rad drückt«, sagt Pusch: »Wenn nicht Deutschland den Bahnlärm erfolgreich bekämpfen kann, wer dann?« Pusch reist unermüdlich von Termin zu Termin, motiviert Mitstreiter und argumentiert beharrlich gegenüber den Vertretern der Politik und der Deutschen Bahn. Im Laufe der Jahre sind Aktivisten aus immer mehr Orten dazu gestoßen. Auch in Nordrhein-Westfalen bestehen sieben örtliche Initiativen.

Routiniert trägt Pusch die Forderungen vor. Dazu gehören passive und aktive Lärmschutzmaßnahmen wie geräuscharme Bremsen und Fahrgestelle, eine Entdröhnung von Brücken, Schienenstegdämpfer, Isolierstöße oder Unterschottermatten für weniger Vibrationen, aber auch ein Nachtfahrverbot für laute Züge oder Höchstgeschwindigkeiten für Ortsdurchfahrten.

Dass eine Lärmsanierung am Rhein schon für 1,2 Milliarden Euro möglich sei, hat die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion geantwortet. Nicht gerade viel angesichts der Tatsache, dass 1,6 Milliarden Euro für die Förderung der Automobilindustrie zur Entwicklung von Elektroautos eingesetzt werden und dass »man mit diesem Geld eigentlich die Elektromobilität auf der Schiene vernünftig gestalten könnte, nämlich mit ordentlichem Lärmschutz«, meint die linke Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig.

Pusch weiß, dass im engen Mittelrheintal manche Häuser so dicht am Bahnkörper stehen, dass kein Platz für Schallschutzwände da ist. Und viele Wände tragen den Schall in höher gelegene Straßen. »Mein Nachbar freut sich besonders über die Lärmschutzwand«, beschreibt auch David Schneider sarkastisch die »Nebenwirkungen« der Baumaßnahme. Weil die Wand direkt auf einen Felsen gegründet sei und die Erschütterungen weitestgehend auf die Bodenplatte des Hauses übertragen würden, »wird Kaffeetrinken schon zur Kunst«. Sobald der derzeitige Mieter ausgezogen sei, »wird auch diese Wohnung leer stehen«, befürchtet Schneider.

Weil Lärmschutzmaßnahmen nicht alles sind, setzt auch Pusch auf eine Alternativtrasse für den Güterverkehr mit möglichst langen Tunnelbauten. Wo diese genau liegen soll, müssten die Fachleute entscheiden. Er ist sich bewusst, dass ein derartiges Projekt gut zehn Jahre Planung und bis zu 15 Jahre Bauzeit erfordert. Ein sehr langer Zeitraum für die stressgequälten Anwohner.

Manche Akteure bedauern, dass bei der Planung der Neubaustrecke von Köln nach Frankfurt am Main in den 1980ern Pläne für einen gemischten Verkehr verworfen wurden - und damit vielleicht auch die Möglichkeit, in den Nachtstunden die Güterzüge über Taunus und Westerwald statt durchs Rheintal rollen zu lassen. Privatisierungskritiker warnen, dass die harte Konkurrenz zwischen privaten Bahnen auch auf dem Rücken der Anwohner ausgetragen wird. Denn Investitionen in geräuscharme Waggons schmälern die Rendite und werden eher vertagt. Lärmabhängige Trassenpreise, die Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) im vergangenen Herbst bei einem Abstecher an den Rhein stolz ankündigte und seit Ende 2012 gültig sind, zahlen Bahngesellschaften »aus der Portokasse«, meinen Kritiker.

Statt »marktgläubig« ein »so kompliziertes bürokratisches Ungetüm« zu kreieren, müsse man nach dem Modell der Schweizer Bahn »vorschreiben, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt keine lauten Güterzüge mehr fahren dürfen«, fordert Sabine Leidig. Ulrich Lenz, Kreistagsmitglied der LINKEN im Rhein-Lahn-Kreis, stellt den Sinn vieler Transporte in Frage und kritisiert die zahlreichen Leertransporte ebenso wie das Just-in-Time-Prinzip auf Straße und Schiene. Er plädiert für eine Stärkung regionaler Kreisläufe.

Im Bundestagswahljahr bemühen sich derzeit alle Parteien an der Rheinschiene um ein Profil als Bahnlärmgegner und machen sich die Forderungen der Bürgerinitiativen zu eigen. Das war nicht immer so, erinnert sich Karl-Heinz Bäuml von der Rheingauer LINKEN: »Vor zwei Jahren haben die anderen unseren detaillierten Antrag im Kreistag als ›demagogisch‹ und ›populistisch‹ abgelehnt.«

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