EU erhöht Druck auf Ukraine

Der »Fall Timoschenko« dient vielen als Faustpfand

  • Manfred Schünemann
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Staats- und Regierungschefs wollten der EU-Kommission auf ihrer Brüsseler Tagung am Mittwoch auch die Vollmacht erteilen, die Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der Ukraine beim EU-Gipfel in Vilnius im November zu unterzeichnen und die technischen Vorbereitungen dafür einzuleiten. Bedingungslos soll das jedoch nicht geschehen.

Der Beschlussentwurf band die Unterzeichnungsvollmacht ausdrücklich an die vollständige Erfüllung der Bedingungen, die der ukrainischen Regierung bereits im Dezember 2012 auferlegt worden waren. Die endgültige Entscheidung über die Unterzeichnung der Abkommen soll daher erst im Oktober fallen. Damit erhöht die EU den politischen Druck auf die Kiewer Regierung, der seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zur Beschwerde der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko über ihre Inhaftierung und die Haftbedingungen während der Untersuchungshaft im August 2011 ohnehin verstärkt worden war. Das Strasburger Urteil vom 30. April enthält zwar keinerlei Aussagen zur Rechtmäßigkeit der Verurteilung Timoschenkos und zu ihren derzeitigen Haftbedingungen, doch machen die EU-Staaten - insbesondere die Bundesregierung - unter Bezugnahme auf den Richterspruch die Haftentlassung der »Oppositionsführerin« zum Kriterium für die Beurteilung des politischen Wandels in der Ukraine.

EU-Kommissar Štefan Füle nannte gegenüber der Nachrichtenagentur »Interfax« vor allem drei Bereiche, in denen die Ukraine die Auflagen der EU bisher nicht oder nur unzureichend erfüllt habe: die praktische Umsetzung der Justizreform, die Änderung der Wahlgesetzgebung und das »Fehlen einer Strategie zur Lösung des Falls Timoschenko, um willkürliche Gerichtsentscheidungen« künftig auszuschließen. Noch deutlicher wurde der US-amerikanische Außenminister John Kerry, der seinem ukrainischen Kollegen Leonid Koschara in Washington kürzlich sagte, dass die »Einstellung der strafrechtlichen Verfolgung Julia Timoschenkos in direktem Zusammenhang« mit einer EU-Integration der Ukraine stehe.

Ungeachtet dessen haben sich Präsident Viktor Janukowitsch und die ukrainische Führung bisher nicht bereit gefunden, den Forderungen des Westens im »Fall Timoschenko« nachzugeben. Zur Begründung verweisen sie immer wieder auf die »Unabhängigkeit der Justiz« und betonen, dass die anderen EU-Forderungen (Justizreform, Änderung der Wahlgesetzgebung) und die Auflagen des EGMR zumindest auf dem Wege der Erfüllung seien. Eine Begnadigung Julia Timoschenkos (wie im Falle des früheren Innenministers Juri Luzenko), die im Westen immer wieder ins Gespräch gebracht wird, wäre nur möglich, wenn die ehemalige Regierungschefin den Schuldspruch und die juristischen Auflagen (Verzicht auf politische Betätigung) anerkenne, was Timoschenko jedoch strikt ablehnt.

Über die Motive für die »starre« Haltung der Führung in Kiew kann nur spekuliert werden, denn im Übrigen ist man dort emsig bemüht, die Bedingungen der EU zumindest formal zu erfüllen. So hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in einem zweiten Verfahren gegen Timoschenko - es geht um ihre Verwicklung in einen Mordfall im Jahre 1996 - vorläufig eingestellt, weil ihr der Zugang zu Zeugen und Beweisen in den USA und Tschechien von dortigen Gerichten verweigert wird.

Sehr wahrscheinlich würde eine Freilassung der einstigen »Gasprinzessin« jedoch auf Unverständnis in weiten Teilen der ukrainischen Öffentlichkeit stoßen - von Anhängern der Opposition abgesehen. Für Stammwähler der regierenden Partei der Regionen wäre ein solches Zugeständnis ein Zeichen der Schwäche, das die Wiederwahl Viktor Janukowitschs 2015 gefährden könnte.

Zu beachten ist aber auch Kritik von Teilen der ukrainischen Wirtschaft an den ausgehandelten Bedingungen für die Freihandelszone mit der EU. Sicherlich nicht zu Unrecht befürchtet man, dass viele ukrainische Waren keine Zertifikation für den Freihandel erhalten, da sie EU-Normen und -Standards nicht entsprechen. EU-Exporteure erhielten dagegen unbeschränkten Zugang zum ukrainischen Markt. Dazu kommt, dass die EU durch das Freihandelsabkommen einen Beitritt der Ukraine zur Zollunion mit Russland, Kasachstan und Belarus definitiv ausschließen will, was für ukrainische Unternehmen und Regionen mit engen Beziehungen zu Russland einschneidende wirtschaftliche und soziale Folgen hätte. Die Führung um Janukowitsch sucht deshalb fieberhaft nach Kompromissen, die eine Einbindung in die Zollunion ohne Vollmitgliedschaft ermöglichen. Der »Fall Timoschenko« dient ihr als eine Art Faustpfand: Solange der »Fall« nicht gelöst ist, bleibt das endgültige Ja der EU zur Unterzeichnung der Assoziierungs- und Freihandelsabkommen offen und die Ukraine bewahrt sich einen Spielraum in den Verhandlungen mit Russland über einen Sonderstatus. Andererseits behält die EU mit dem ungelösten »Fall Timoschenko« ein Mittel, um den Druck auf Kiew bis zum Vilnius-Gipfel aufrechtzuerhalten

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