Soziale Bewegung von unten

  • Gerd Häuser
  • Lesedauer: 4 Min.

Wirtschaftswachstum, niedrige Arbeitslosenzahlen und der höchste Beschäftigungsstand seit 20 Jahren - so die Erfolgsmeldungen der Regierung. Die Realität, die ich wahrnehme, ist eine ganz andere. Mehr als 12 Millionen Menschen gelten als arm. Zu denen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, zählen Langzeitarbeitslose, immer mehr Geringverdiener, viele Alleinerziehende und eine steigende Zahl von Rentnern.

Ich finde es beschämend für ein so wohlhabendes Land, dass zwar ein Armutsbericht nach dem anderen erscheint, sich die Verhältnisse aber für die Betroffenen nicht grundlegend verbessern, weil es unsere Gesellschaft nicht schafft, allen Bürgern ein menschenwürdiges Auskommen zu ermöglichen. Dort, wo der Staat versagt und Menschen unmittelbar Hilfe benötigen, da werden die Bürger selbst aktiv. Das war schon immer so. In Deutschland engagieren sich etwa eine Million Bürger freiwillig im sozialen Bereich. So lange es Armut gibt, so lange existieren Organisationen oder Bürgerinitiativen, die den Betroffenen nach ihren jeweiligen Möglichkeiten helfen: Ärzte behandeln Obdachlose oder Asylsuchende, die keine Krankenversicherung haben. Bildungspaten bringen Kindern in sozialen Brennpunkten Lesen bei oder erteilen Nachhilfeunterricht. Anwälte beraten Bedürftige in Rechtsfragen. Sie alle helfen, weil staatlich finanzierte Einrichtungen (Krankenhäuser, Schulen, Behörden) ihrem Auftrag nicht ausreichend gerecht werden.

Die Tafeln sind Teil dieses von Bürgern getragenen nicht-staatlichen Hilfenetzwerkes. 1993 riefen Berliner Frauen die erste Tafel ins Leben. Sie hatten beobachtet, dass Supermärkte massenhaft einwandfreie Lebensmittel entsorgten, während gleichzeitig zehntausende Menschen am Existenzminimum lebten. Der Gedanke, diese Lebensmittel einzusammeln und damit Bedürftigen ganz unmittelbar zu helfen, lag nahe und breitete sich schnell aus. Heute verteilen mehr als 50 000 Freiwillige bei 910 Tafeln Lebensmittel an Bedürftige. Etwa 1,5 Millionen Menschen nehmen die Hilfe der Tafeln in Anspruch.

Die Tafel-Bewegung war von Anfang an eine Graswurzelbewegung. Die Initiative zur Gründung einer Tafel geht nicht vom Bundesverband, sondern stets von den Bürgern vor Ort aus. Sie entscheiden, wie ihre Tafel genau funktioniert, welche Angebote die Tafel über die Lebensmittelausgabe hinaus macht, mit welchen Einrichtungen sie kooperiert.

Die Tafeln wollen und können keine Vollversorgung mit Lebensmitteln übernehmen. Sie können nur weiterreichen, was sie selbst gespendet bekommen. Mir ist klar, wie schwierig es ist, um Hilfe zu bitten. Und doch bedeutet den Nutzern der Tafeln diese Unterstützung sehr viel: Die Lebensmittel ergänzen ihren Speiseplan, entlasten ihr schmales Budget zugunsten anderer dringender Anschaffungen oder kultureller Aktivitäten. Sie erleben Zuwendung, können soziale Kontakte pflegen und sich Rat zu weitergehenden Hilfen holen.

Neben den vielen aus Bürgerinitiativen hervorgegangenen Tafeln haben sich auch die großen staatlich unterstützten Wohlfahrtsverbände und die Arbeitslosenverbände an der Entstehung von Tafeln beteiligt. Diakonie, Caritas, AWO, DRK und der Paritätische sind Träger vieler Tafeln. Tafeln fungieren somit häufig als Wegweiser zu den vielfältigen Angeboten der Wohlfahrt, zum Beispiel Schuldnerberatung oder Familienhilfe. Wer meint, die Tafeln würden ein marodes Sozialsystem stützen, der müsste konsequenterweise die Abschaffung sämtlicher Hilfsorganisationen sowie der Wohlfahrtsverbände fordern. Nur, Hilfen abzuschaffen, ist keine Lösung. Jedenfalls nicht für die, die sie benötigen.Was sie neben unbürokratischer Soforthilfe brauchen, sind viele und lautstarke Fürsprecher für eine bessere Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Hier fordern wir wie viele Sozialverbände seit langem grundlegende Reformen. Und so lange die nicht erfolgen, lassen wir die Menschen nicht im Stich und gute Lebensmittel nicht verrotten.

Man muss sich klar machen, was Gemeinnützige leisten können und was nicht. Wenn es um Arbeitsplätze, das Lohnniveau, Kita-Plätze, Bildungschancen von Kindern, die Rentenpolitik und eine sozial gerechte Steuerpolitik geht, müssen Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände ihren jeweiligen Einfluss noch stärker geltend machen. Bürgerschaftliches Engagement kann vieles bewirken, es entbindet den Staat aber ganz sicher nicht von der Fürsorgepflicht für seine Bewohner. Daseinsvorsorge ist Aufgabe des Staates - und muss es bleiben! Tafeln oder gemeinnützige Initiativen überhaupt können Armut nicht beseitigen, sie können nur bei einem Teil der Betroffenen ihre Folgen lindern.

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