Das Vermächtnis des Harry Thürk

In seinen letzten Lebensjahren fand der Schriftsteller einen Freund aus seiner alten Heimat

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 7 Min.
Als kürzlich die Nachricht vom Tod des Schriftstellers Harry Thürk bekannt wurde, setzte sich sein Hamburger Freund Jan Dolny an den Computer und schrieb sich seine Trauer von der Seele: »Mensch Harry - ich mag es nicht glauben, dass es keine Gespräche mehr mit Dir geben wird.« Es war eine enge Freundschaft, für Jan Dolny wohl eine der tiefsten seines Lebens. Persönlich getroffen haben sie sich nur vier Mal innerhalb von sieben Jahren. Telefoniert haben sie oft, beinahe täglich. Auch für Harry Thürk war diese Freundschaft enorm wichtig, wie seine Frau Renate sagt. Angefangen hat alles, als der Westdeutsche Jan Dolny 1997 nach der Flutkatastrophe wie so oft seine Heimatstadt Neustadt, heute Prudnik, in Niederschlesien mit einer Hilfssendung besuchte. Dolny ist 1958 als 15-Jähriger in die Bundesrepublik gekommen. Er hat sich sein ganzes Leben in der deutsch-polnischen Gesellschaft für die Aussöhnung zwischen den beiden Nationen eingesetzt. Je älter er wird, desto stärker wird sein Interesse für seine Heimatstadt. Dort lernt er Vertreter der deutschen Minderheit kennen. Die nehmen ihm seine offensichtliche Freundschaft zu Polen übel und empfehlen ihm ein Buch von Harry Thürk: »Der Sommer der toten Träume«. Dieser Roman schildert das Schicksal der Deutschen in Neustadt 1945/46, eine Zeit, die Dolny, damals noch ein Kleinkind, aus den Erzählungen seiner Eltern kennt. Er beschreibt, wie die Polen damals ein Ghetto für die Deutschen einrichteten, wie die Menschen dort litten, an Hunger und Folter starben. Harry Thürk hat es so erlebt. Er erzählt seine eigene Geschichte. Jan Dolny liest den Roman atemlos in zwei Nächten und begreift sofort: »Wer diesen Roman als Anklage liest, der hat Harry Thürk nicht verstanden, der hat keines seiner Bücher verstanden.« Für Dolny ist klar: Er muss mehr über diesen Mann wissen. Schon beim ersten Anruf entwickelt sich zwischen den beiden Männern ein intensives Gespräch. Thürk ist an allen Neuigkeiten über Prudnik/ Neustadt interessiert. Er hat seine Heimatstadt nur noch einmal in den 50er Jahren besucht, dann nie wieder. Gleichzeitig hat Dolny viele Fragen zu Thürks Roman. Schon in diesem ersten Gespräch entwickelt sich, was die Freundschaft der beiden Männer ausmacht. »Jan Dolny«, sagt Renate Thürk, »konnte wunderbar zuhören.« »Und Thürk konnte wunderbar erzählen«, meint Dolny. Er ist Feuer und Flamme, lädt Thürk ein, Neustadt zu besuchen. Aber der winkt ab; er ist ans Haus, wenn nicht ans Bett gefesselt. Als Kriegsberichterstatter in Vietnam hat er einen amerikanischen Luftangriff mit Agent Orange überlebt. Das Gift hat schädigte seine Lungen. Es wird seine Todesursache sein. Nach und nach erfährt Jan Dolny, was Dichtung, was Wahrheit ist am Prudnik-Roman, den Thürk 1993 veröffentlicht und den er 30 Jahre lang geplant hat. Thürk war als junger Mann in der Wehrmacht. Das Kriegsende erlebt er in der Nähe von Bautzen. Als ein Unteroffizier durchgibt: »Der Krieg ist aus«, werfen die jungen Soldaten ihre Flinten buchstäblich ins Korn und laufen davon. Nur weg, egal wohin. Thürk will in seine Heimatstadt, wo Mutter und Schwester warten. Auf dem Rückweg schließt er sich mit zwei jungen Deutschen und einer Zigeunerin, die Auschwitz überlebt hat, zusammen. Sie tauchen im jetzt polnischen Neustadt unter. Nachdem einer aus der Gruppe inhaftiert wird, befreien sie ihn und fliehen nach Deutschland. Unterwegs stirbt der Kamerad an den Folgen der Lagerhaft. Und hier weicht der Roman von der Wirklichkeit ab. Die Zigeuner, so erzählte Thürk seinem Freund Dolny, haben den Brauch, Haare der Frau des Toten mit ins Grab zu geben. Aber Alina hatte in Wirklichkeit kaum Haare. Sie war in Auschwitz kahl geschoren worden. Der junge Harry Thürk mischt heimlich Haarbüschel von sich zu Alinas mühsam abgeschorenen Stoppeln. Sie merkt es nicht in ihrer Trauer. Das fehlt im Roman. Schon dieser erste Roman ist typisch für das Spannungsfeld, in dem sich die beiden Männer bewegen: Einerseits die Hinwendung zu den Opfern des Faschismus. Thürk trifft 1948 auf einem Schriftstellerkongress Tadeusz Borowski. Der ehemalige Häftling hat das in Polen wohl berühmteste Buch über die Lagerhaft geschrieben: »Bei uns in Auschwitz«. Er rät Harry Thürk, über seine Erlebnisse zu schreiben. So erzählt es der Autor 50 Jahre später dem Westdeutschen Jan Dolny. Gleichzeitig ist beiden Männern gemeinsam, dass sie Unrecht erfahren haben im Nachkriegs-Polen. Thürk verarbeitet das in seinem Roman. Dolny kämpft um die Rehabilitierung seines Vaters, der im Nachkriegs-Polen wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilt wird. Der kleine Jan ist ein guter Schüler. Aber es lastet ein ungeheurer Druck auf ihm. Denn immer, wenn er das beste Zeugnis des Jahrgangs vorweisen kann, wird dem Vater ein Teil der Strafe erlassen, von der Todesstrafe zu lebenslänglich, dann immer weniger, bis er Mitte der 50er Jahre entlassen wird. Als gebrochener Mann reist er mit seiner Familie in den Westen nach Hamburg aus, um dort kurz danach zu sterben. Diese widersprüchlichen Erfahrungen verbinden die beiden Männer. Dolny begreift langsam, dass er einen der erfolgreichsten Schriftsteller der DDR kennen gelernt hat. Er kauft Buch um Buch, ihr Dialog wird intensiver. Irgendwann kommt eine Kiste mit Rotwein bei Jan Dolny an. Harry Thürk bietet dem fast 20 Jahre Jüngeren das Du an. Sie stoßen am Telefon an, Harry Thürk mit Tee, er verträgt wegen der Krankheit nichts mehr. Jan Dolny hat gute Verbindungen zum »Tygodnik Prudnicki«, der Tageszeitung seiner Heimatstadt. Er veranlasst, dass Thürks Buch »Sommer der toten Träume« ins Polnische übersetzt und als Fortsetzungsroman in der Zeitung veröffentlicht wird. Zum ersten Mal erfahren die jungen Prudniker von der Nachkriegsgeschichte ihrer Heimatstadt. Das Interesse ist ungeheuer groß. Die meisten Leser reagieren positiv, vor allem die jüngeren. Sie fragen nach dem Autor, wollen mehr von ihm lesen. Dolny fährt in seine Heimatstadt und organisiert dort eine Ausstellung über Thürk. Die gemeinsamen Projekte bringen die beiden Männer einander immer näher. Es ist schwierig für Jan Dolny, die älteren Titel von Thürk aufzustöbern. Seine Bücher werden nicht mehr aufgelegt, in westdeutschen Bibliotheken sind sie nicht zu finden. Dolny sucht bei Archivaren und bei Internetauktionen. Thürks Bücher sind begehrt. 60 Euro ist es seinen Fans wert, eines der selteneren zu ersteigern. Jedes Mal, wenn Dolny einen neuen Titel ergattert hat, beginnt für ihn ein Abenteuer. Er wird nie enttäuscht. Hat er das Buch gelesen, dann schickt er es dem Autor mit vielen Fragen und der Bitte um Signatur. Die Gespräche finden hauptsächlich am Telefon statt. Harry Thürk ist zu schwach, das Bett zu verlassen. Beim letzten Besuch des Freundes wiegt er nur noch knapp über 30 Kilo. Dennoch gibt er bereitwillig Auskunft über seine Romane, über die Erlebnisse auf seinen Reisen. Er schickt Erinnerungsstücke nach Hamburg, nordvietnamesische Banknoten zum Beispiel, die seine Frau nach der Wäsche vollkommen verdrückt in der Hosentasche fand, oder eine alte Karte Vietnams, auf der er die Stelle markiert, wo ihn der Angriff mit dem Giftgas Agent Orange getroffen hat. Gleichzeitig will er von Dolny stets Neuigkeiten über Prudnik erfahren. Der hat vor zwei Jahren eine alte Chronik von Neustadt gefunden und lässt sie ins Polnische übersetzen. Das Buch erscheint in wenigen Wochen. Einer der Sponsoren ist Harry Thürk. Jetzt plant Dolny, die Neustädter Chronik im März feierlich in Prudnik zu übergeben. Es wäre Thürks 79. Geburtstag gewesen. Wieder soll eine kleine Ausstellung über sein Leben und Werk gezeigt werden. Außerdem hat Thürk Jan Dolny in seinem Testament beauftragt, seine umfangreiche Bibliothek zu ordnen und in seine Heimatstadt Prudnik zu überbringen. Die jungen Polen dort sollen davon profitieren. In seinen letzten Jahren wird die Verbindung zu seiner Heimatstadt immer wichtiger für Thürk, sagt Dolny. Und die Freundschaft der beiden Männer. »Sie waren traurig, dass sie sich so spät getroffen haben«, erzählt Renate Thürk. »Aber sie hatten das Gefühl, sich schon immer zu kennen.« Kurz vor seinem Tod schreibt Thürk einen Brief an Lorenz, den zweijährigen Enkel Jan Dolnys. Er soll ihn lesen, wenn er erwachsen ist. Thürk schildert die Freundschaft zum Großvater und eine Episode aus seiner Kindheit: »Ich war zehn Jahre alt, als ich eines Tages auf dem Ladentisch unseres Bäckers das große Schild sah: >An Juden und Polen wird kein Kuchen verkauft<. Jungens aus Familien mit polnischen Vätern oder Müttern gingen mit mir zur Schule. Auch Juden. Alle zusammen hatten wir unter Zigeunern unsere Freunde. Wir hatten nicht die Spur von Konflikten. Und nun sollten die alle >minderwertiger< sein als ich? Da begann ich, Fragen zu stellen: >Warum?< Laut.« Warum erzählt er diese Geschichte? Was soll sie bei Lorenz auslösen? »Selbstvertrauen, eigenes Denken in eigener Sache«, so Thürk. Geschrieben ist dieser Brief auf altem Briefpapier, das Thürk aus China mitgebracht hat. Es ist sein persönliches Vermächtnis.

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