»Ihr zerstört unsere Länder«

Flüchtlingstribunal in Berlin klagt deutsche Regierung an

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 3 Min.
500 Flüchtlinge aus ganz Deutschland halten in Berlin ein Tribunal gegen die Bundesrepublik ab. Sie prangern »koloniales Unrecht« an und beklagen die Lebensumstände in ihren Heimatländern sowie in Flüchtlingslagern.

Das Lager ist nicht mehr als ein doppelstöckiger Containerbau. Das Foto zeigt lediglich die Seitenwand, fensterlos, eine Außentreppe führt zum Notausgang im 1. Stock. Rechts davon steht keine zehn Meter entfernt ein einstöckiger Flachbau, die Fassade bröckelt. »Links: Lager. Rechts: Leichenhalle des Friedhofs«, steht unter dem Bild.

Es ist Teil einer Ausstellung auf dem Mariannenplatz in Berlin. Flüchtlinge aus ganz Deutschland haben Fotos ihrer Aufenthaltslager mitgebracht - dreckige Klos, schmale dunkle Gänge, abblätternde Farbe. Außerdem Bilder von Protesten gegen die deutschen Asylgesetze. Die Ausstellung bildet den Rahmen für ein von Flüchtlingen organisiertes Tribunal gegen die Bundesrepublik.

Wahlprüfsteine zum Asylrecht

Berlin (nd-Meyer). Rechtsanspruch auf Integrationsleistungen, Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft, Beendigung der gewaltsamen Abwehr von Flüchtlingen an den Außengrenzen der Europäischen Union, Förderung der Freizügigkeit als grundlegendes Recht aller Unionsbürger –  dies sind nur vier der Wahlprüfsteine zur diesjährigen Bundestagswahl, die gestern vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Pro Asyl und dem Interkulturellen Rat in Deutschland auf einer gemeinsamen Pressekonferenz vorgestellt wurden.

»Wir wollen ein Europa der Menschlichkeit statt der Märkte«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Die drei Organisationen riefen die Politik dazu auf, Antworten auf die »zunehmende gesellschaftliche Spaltung in Deutschland und der Europäischen Union« zu finden. Es bedürfe einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Asylpolitik. Dazu gehöre auch die Abschaffung der Isolierung von Asylsuchenden in Lagern und der freie Zugang zum Arbeitsmarkt, erklärte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt.

Wichtig sei die Erarbeitung einer handlungsorientierten Strategie gegen Rassismus und Diskriminierung durch Bund, Länder, Kommunen und die Zivilgesellschaft. Im Hinblick auf den Wahlkampf mahnten die Verbände die Parteien, nicht auf dem Rücken von Minderheiten um Stimmen zu werben.

Rund 500 Migranten aus Lagern unter anderem in Hessen, Baden-Württemberg und Hamburg sind angereist, um »koloniales Unrecht« anzuprangern. »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört«, ist eine der zentralen Anklagen, der Spruch prangt auf Transparenten und T-Shirt-Rücken und tönt immer wieder durchs Mikrofon. Von Donnerstag bis Sonntag berichten die Teilnehmer von den Lebensbedingungen in ihren Heimatländern wie Sudan und Nigeria sowie in Flüchtlingslagern in Deutschland.

Eine der ersten Anklagen verliest am Donnerstag Gülay Boran vom Sozialistischen Frauenbund (SKB). »Staaten wie Deutschland und die USA zerstören unsere Länder und unsere Körper und fragen uns dann, warum wir hier sind.« Hunger, Gewalt und Krieg haben das Leben zu Hause unmöglich gemacht. Nach der langen und schwerfälligen Einreise nach Deutschland dann das Erwachen: »Hier erfahren wir in den Lagern und der Isolation die gleiche Gewalt«, sagt Boran.

Die »imperialistischen Staaten« haben während des Kolonialismus in Afrika »Menschen niedergemetzelt«, die Kulturen der Einheimischen zerstört und Ressourcen und Arbeitskraft ausgebeutet, um das eigene Wirtschaftswachstum zu stärken, klagt Sala Ibris vom Palästina AK Hamburg. Deutschland sei im Laufe der Jahre durch personelle, territoriale oder finanzielle Unterstützung an Kriegen beteiligt gewesen, bei denen Hunderttausende umgekommen seien. Als Beispiele nennt Ibris Ex-Jugoslawien, Irak und Syrien.

Schließlich zeige der Fall Oury Jalloh, dass der Rassismus aus Nazi-Deutschland fortwähre. Der Sierra Leoner starb bei einem Brand in einer Polizeizelle in Dessau. Nach Polizeiangaben hat er sich selbst angezündet - mit gefesselten Händen. Jalloh ist nicht der einzige Migrant, der im Gewahrsam deutscher Behörden starb. Ende Mai nahm sich ein Flüchtling im Abschiebelager Eisenhüttenstadt in Brandenburg das Leben, nachdem ihm medizinische Hilfe verweigert worden war. »Wo soll das hinführen, wie viele Menschen sollen wir noch beklagen?« fragt Silas.

Allein ein »Papier« löse nicht das Problem, sagt Araz Ardehali gegenüber dem »nd«. Der Iraner lebt seit 28 Jahren in Deutschland und hat mittlerweile den deutschen Pass. Weder Niederlassungserlaubnis noch Staatsbürgerschaft schütze vor dem alltäglichen Rassismus. Das bestätigen andere Redner auf dem Podium: In der U-Bahn werde man kontrolliert, weil man eine andere Hautfarbe habe oder aus anderen Gründen nicht »deutsch« genug aussehe. Dennoch beanspruchen die Flüchtlinge Papiere für sich, die ihnen das Bleiberecht in Deutschland zusichern. Das koloniale Erbe verpflichte Deutschland dazu. »Wir werden kämpfen, wie bleiben hier, wir gehen nie wieder weg!« ruft eine Gruppe von zwölf Libyern ins Mikrofon, die über Italien nach Deutschland eingereist und in Berlin untergebracht sind.

Das Tribunal wird live im Internet übertragen, die Anklagen alle dokumentiert. Am Sonntag soll beschlossen werden, wie es weitergeht und ob die Anklagen genutzt werden, um die Forderungen der Flüchtlinge an die Politik heranzutragen.

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