Türkei: 130.000 Tränengas-Patronen gegen Regierungskritiker
Human Rights Association zählt 3.000 Festgenommene / Landesweit mindestens 7.500 Verletzte und vier Tote / Polizei will 60 neue Wasserwerfer bestellen
Istanbul (Agenturen/nd). Rund drei Wochen nach dem Beginn der regierungskritischen Protestwelle in der Türkei zeichnet sich nun eine erste Bilanz der staatlichen Angriffe auf die Protestierenden ab: Die türkische Polizei hat einem Zeitungsbericht zufolge rund 130.000 Patronen mit Reizgas verschossen. Es sei nun geplant, größere Mengen an Tränengas und Pfefferspray zu beschaffen, um die Bestände aufzufüllen, berichtete die Tageszeitung »Milliyet« am Mittwoch weiter. Außerdem sollten 60 weitere Wasserwerfer beschafft werde.
Der massive Einsatz von Tränengas ist international als unverhältnismäßig kritisiert worden. Zudem wird verurteilt, die Polizei habe gezielt und auf kurze Distanz direkt auf Demonstranten geschossen und Tränengasgewehre damit praktisch wie scharfe Waffen eingesetzt. Zudem wird untersucht, ob einer der bei den Protesten getöteten Menschen an einer Überdosis Tränengas starb.
Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Human Rights Association wurden seit Ende Mai rund 3000 Menschen vorübergehend von der Polizei in Gewahrsam genommen. Allein in Istanbul sitzen 68 Demonstranten noch in Haft - überwiegend wegen angeblicher Kontakte zu Terrorgruppen, wie die Hassan Kilic von der städtischen Rechtsanwaltskammer am Mittwoch mitteilte. 33 weitere seien von der Polizei vernommen worden und müssten mit Anzeigen wegen Bandenkriminalität rechnen, sagte er.
Die Türkei wird seitdem von regierungskritischen Protesten erschüttert, nachdem die Polizei eine friedliche Demonstration gegen die Abholzung von Bäumen im Gezi-Park am Taksim-Platz gewaltsam aufgelöst hatte.
Bei den Dutzenden Straßenschlachten mit Wasserwerfern, Gummigeschossen und Tränengas wurden landesweit mindestens 7.500 Menschen verletzt und mindestens vier getötet: drei Demonstranten und ein Polizist. Die Polizei ging auch am Mittwoch erneut gegen Regierungskritiker vor - unter anderem in der westanatolischen Stadt Eskisehir und in Ankara.
Inzwischen nutzen aber immer mehr Menschen die neue Form des Protests: Sie stehen stundenlang einfach nur still. Auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul waren bis in die Nacht mehrere hundert schweigende Menschen versammelt. Sie protestierten gegen die aus ihrer Sicht autoritäre Regierung und die Polizeigewalt der vergangenen Tage. Am Mittwoch standen weiter Menschen aus Protest still. Ein türkischer Choreograph hatte in der Nacht zum Dienstag als „Stehender Mann“ stundenlang auf dem Taksim-Platz verharrt und damit die neue Protestform initiiert.
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.