Bruch mit dem System

Weltweit erwachen Sehnsüchte nach einer anderen Wirklichkeit

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 5 Min.

Welcher Linksradikale träumt nicht davon, das kapitalistische Herrschaftssystem zu verraten. Verrat ist schließlich die direkteste und radikalste Form, ein vermeintliches Treueverhältnis aufzukündigen und außer Kraft zu setzen. Schließlich wird jeder in dieses kapitalistische System unwiederbringlich hineingeboren und ist seinem Zwang ausgesetzt - ob er will oder nicht.

Radikale Kritik an den bestehenden Verhältnissen solle man sich doch besser verkneifen, lautet das Diktum der konsensorientierten bürgerlichen Mitte in unserer postpolitischen Ära. Schließlich sei man privilegiert, an den Vorzügen der westlichen Wertegemeinschaft teilzuhaben. Wer dennoch die gesellschaftlichen Hierarchien, die alles erfassende Verwertungslogik, das Diktat der Lohnarbeit und die rassistischen und sexistischen Ausgrenzungsmechanismen immer wieder bei jeder Gelegenheit infrage stellt, gilt schnell als Extremist. Den staatlichen Schützern der postdemokratischen Konsensordnung gilt der Extremist als Verräter des Systems. Ihm Grundrechte abzuerkennen, etwa das Versammlungsrecht wie unlängst bei Blockupy in Frankfurt, wird als Schutzmechanismus und logische Konsequenz rationalisiert.

Im autoritären Krisenregime des Neoliberalismus scheint es leicht zu sein, zum Extremisten und Verräter abgestempelt zu werden. Es genügt schon, sich gegen die alles beherrschende Marktlogik zu stellen: die Volksküche im linken Projekt, die Unterstützung für das besetzte Rentnerinnenheim, sich gegen die Zwangsräumung in der Nachbarschaft zu stemmen, medizinische Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung zu organisieren oder mitzuarbeiten im Do-it-yourself-Raum für Konzerte und Podiumsdiskussionen, in dem weder Geld verdient noch schwulenfeindliche oder mackerhafte Übergriffe geduldet werden.

Ein kluges Wort, schon ist man Extremist

Kleinteiliger harmloser Verrat an der Herrschaftslogik wird aber geduldet. Dafür wird niemand unter Aufbietung aller polizeilichen und nachrichtendienstlichen Mittel über den Globus gejagt wie jetzt gerade der IT-Techniker Edward Snowden, der es wagte, seinen Arbeitgeber, den Geheimdienst CIA, zu verraten und die dahinter stehende Staatlichkeit herauszufordern. Das ist dann schon Hochverrat. Dabei wird eine in Bedrängnis geratene Gemeinschaft wie Volk oder Nation imaginiert. Meist geht es um eine als schicksalhaft definierte Herausforderung, die bemüht wird, um sich in der reaktionären Trutzburg des Treueverhältnisses zu verschanzen. In der Postmoderne sind diese starren und festen Treueverhältnisse mehr als fragwürdig. Für eine undogmatische Linke, die sich ständig in gegenseitiger Kritik überbietet, sich streitet und spaltet, ist dieses Konzept des Verrats sowieso ungeeignet.

Aber im heutigen liberalen Menschenrechtskapitalismus den radikalen Systembruch im Stile eines solchen Hochverrats ins Werk zu setzen, ist dann doch nicht so einfach. Nach dem strammen Marsch der 68er durch oder besser mitten hinein in die Institutionen, im Nachklapp die Assimilation der maoistischen 70er-Jahre-Kohorten, die heute im Vorstand der grünen Partei sitzen, ist der Kapitalismus mit allen Wassern gewaschen, wenn es um die Kontrolle und das Aufsaugen linker Widerstandspraktiken geht. Der postfordistische Kapitalismus spielt vielmehr geschickt mit dem systemkritischen Potenzial. Zum Beispiel im immer wichtiger werdenden Kampf um die Innenstädte. Die Kiezaufwerter - derzeit schielen sie auf die an den Finanzmärkten frei werdenden Kapitalsummen - benötigen zum Hochtreiben der Immobilienpreise eben auch künstlerisch geprägte hedonistische Erlebnisflächen für die urbanen Latte-Macchiato-Zonen. Deshalb wird immer wieder einmal ein Stück Stadt zum kreativen Bespielen bereitgestellt. Wo vorgestern noch prügelnde Polizisten aufs Punker-Picknick losgelassen wurden, gestern prekarisierte Künstler mit Quartiersmanagement-Honoraren die Nachbarn animierten, den Kiez schöner zu machen, wird heute schon der angeblich sozialverträgliche Öko-Kaffee verkauft - inklusive Gebäck vom Bio-Juncker-Hof.

Treuebruch mit dem Bestehenden

Das gegenwärtige System als die am wenigsten schlechte aller möglichen Welten schafft es dennoch immer wieder, sich als annähernd erfüllte Utopie der befreiten Individuen in Szene zu setzen - wenn diese Freiheit auch ganz warenförmig mit schnellen Autos, bunten High-Speed-Computerspielen und städtischen Events an allen Ecken und Enden daherkommt. Die Prachtstraßen der Metropole werden mit fröhlicher Musik beschallt und in national taumelnde Zonen verwandelt. Wem das nicht gefällt, der wird schon verdächtigt, womöglich die gemeinsame Sache zu verraten.

Aber war da in jüngster Zeit nicht noch etwas anderes? Ein neuer Widerstand? Womöglich sogar massenhafter Verrat am System? Als »Aufstand der Liliputaner an der Wall Street« bezeichnete der amerikanische Alt-68er und Stadtsoziologe Mike Davis die Occupy-Bewegung von 2011. Zwei Jahre später erleben Istanbul, Sao Paulo und Rio de Janeiro riesige Demonstrationen. Es gibt Straßenschlachten in Bern und in Athen, massenhaft werden Wohnungen in Madrid und in anderen spanischen Städten besetzt. Die arabische Welt erlebt einen revolutionären Umbruch nach dem anderen.

Sind das nur harmlose Reformbemühungen, die das krisenhafte System am Leben erhalten? Oder zeichnet sich hier womöglich ein sich radikalisierender Verrat am kollektiven, erzwungenen Treueverhältnis ab? Nur wo verläuft die Grenze zwischen Reform und Verrat? Insofern das Bestehende nur verbessert werden soll, geht es um Reformen. Zum Verrat bräuchte es schon Visionen einer anderen Wirklichkeit - genauer gesagt konkrete soziale Utopien jenseits kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse. Wer in der heutigen Kunstproduktion oder Kulturindustrie, egal ob im Film oder in der Literatur, nach Utopien sucht, wird kaum fündig werden. Diesen Schritt eines konsequenten Verrats am Bestehenden zu vollziehen ist derzeit kaum jemand bereit oder in der Lage. Dabei wäre es der richtige Zeitpunkt dafür - jetzt inmitten der Krise. Es scheint jedenfalls versteckte Sehnsüchte nach dem konsequenten Verrat zu geben. Nur so ist die Faszination vieler Menschen für Edward Snowden zu verstehen. Denn er vollzieht von seiner Position aus einen konsequenten Bruch mit der scheinbar alternativlosen Herrschaftsordnung.

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