Ein Protest mit dem Kugelschreiber
Flüchtlingsstreik gegen Anwesenheitskontrollen
Wer an diesem Donnerstagmorgen das Kreishaus in Witzenhausen im Werra-Meißner-Kreis betreten will, muss »aus organisatorischen Gründen« klingeln und wird einzeln eingelassen. Für diesen Tag hat der »Arbeitskreis Asyl« angekündigt, Flüchtlinge auf dem Gang zum Sozialamt zu begleiten. Vor dem Gebäude stehen etwa 40 Unterstützer. In Sichtweite auf dem Parkplatz und an den nächsten Kreuzungen ist die Polizei mit gut 20 Beamten präsent. Nicolas Müller* ist einer der Flüchtlinge, denen die monatliche Hilfe zum Lebensunterhalt vorenthalten wurde. Er will zum Gespräch. Die Zuständige für Migration und Spätaussiedler im Kreis, Birgit Krüger, steht in der Tür und lässt drei der fünf Begleiter durch.
Der Konflikt mit dem Amt ist Anfang Juli ausgebrochen. Zunächst hatten Mitglieder vom lokalen »Arbeitskreis Asyl« die Flüchtlinge gefragt, wie sie sich ihr Leben wünschen würden, damit es schön wäre. Als große Bedürfnisse wurden jene nach sozialem Kontakt, Bewegungsfreiheit und Ausbildung geäußert. Dem steht aber eine Regelung im Weg, die laut Aussage des hessischen Flüchtlingsrats in Deutschland sehr ungewöhnlich ist: Zwei Mal pro Woche müssen die Asylsuchenden in ihrer Unterkunft persönlich unterschreiben - jeden Dienstag und Donnerstag zwischen 9 und 11 Uhr. Mehrfach gab es deshalb schon Probleme für Flüchtlinge, die Schule zu besuchen oder eine Ausbildung aufzunehmen. Neun Geflüchtete haben nun im Juli ihre Unterschrift verweigert. Auch Nicolas Müller.
Die Luft in der kleinen Amtsstube im Kreishaus ist an diesem Sommertag zum Schneiden. Im Raum haben sich fünf Mitarbeiter des Amtes hinter einem Riegel aus Tischen verschanzt, davor stehend reden Müller und seine Begleiter auf sie ein, beobachtet von vier Pressevertretern und dem stellvertretenden Landrat. Später kommen drei Polizisten dazu. »Sie haben die gesetzliche Residenzpflicht«, sagt Frau Krüger schon heiser und betont, in Ausnahmefällen könnte das Amt auf die Unterschriften verzichten. »Die Ausnahme war auch nicht möglich, als ein Lehrer extra einen Brief geschrieben hatte«, entgegnet einer der Begleiter.
Er bezeichnet die Umstellung auf eine wöchentliche Auszahlung des Lebensunterhalts per Barscheck als »Sanktion« gegen die streikenden Flüchtlinge. Die Amtsleiterin sieht das anders: »Das ist keine Sanktion, das ist eine Anwesenheitskontrolle.« Zu dem Anlass des Konflikts ergänzt sie, »die Unterschrift ist freiwillig.« Später will der Sprecher des Landkreises, Jörg Klinge, ausschließlich Fragen der Presse zulassen. Seit wann gilt die Regelung mit den Unterschriften? »Ich bin seit 2008 hier, da war das schon so«, meint Krüger, während ihre Kollegin von »mindestens zehn Jahren« spricht. Ob es einen Beschluss dazu gab? »Diese Regelung ist reines Verwaltungshandeln«, erläutert Klinge. Doch in der Sache bleibt er eisern, »wir sehen momentan keinen Grund, dort Änderungen vorzunehmen.«
Offenbar gab es schon vor mehreren Jahren Proteste gegen die Unterschriften, die aber erfolglos blieben. Thomas Aleschewsky vom Sprechergremium des hessischen Flüchtlingsrats sieht keine Rechtsgrundlage für das »Verwaltungshandeln«. Für die aktuelle Umstellung auf wöchentliche Zahlungen per Barscheck gibt es laut Arbeitskreis Asyl keinen Änderungsbescheid, sondern ausschließlich mündliche Ankündigungen der Betreuer an die Streikenden.
Im dritten Akt folgen die Medienvertreter der Einladung zum Pressegespräch. Die Fachbereichsleiterin für Soziales Ilona Friedrich erläutert in einem Nebenzimmer, dass die Unterbringung der Flüchtlinge dezentral in kleinen Einrichtungen erfolgt und Frauen mit ihren Kindern für sich untergebracht sind, »es gibt viele gute Beispiele hier«. Bei dem »Verwaltungshandeln« geht Vize-Landrat Rainer Wallmann allerdings davon aus, dass dies »wohl so bleiben wird. Aber natürlich legen wir nicht einmal etwas fest und halten uns dann zwingend zehn Jahre daran.«
Während des Pressegesprächs sind Rufe im Flur zu hören. Nicolas Müller erzählt danach, dass die Polizei ihn und seine Begleiter aus dem Amt geworfen habe, dabei seien ihm die Arme auf dem Rücken verdreht worden. Den Scheck für die erste Augustwoche hat er nicht angenommen.
*Name von der Redaktion geändert
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.