Die Seele der Linken - und die der Sozialdemokratie

Heinz Niemann zur Debatte über die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung durch die Linkspartei

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 9 Min.

Die zumindest rhetorischen Angebote aus der Linkspartei, eine rot-grüne Minderheitsregierung gegebenenfalls zu tolerieren, hatte nicht nur im Vorstand für Diskussionen gesorgt, sondern auch an der Basis verständlicherweise Debatten ausgelöst. Die Antwort in der Schwebe zu lassen, ist zweifellos ein kluge Entscheidung, sollte sie nicht nur wegen der strikten Absage seitens der SPD erfolgt sein. Das Problem ist zu kompliziert, um jetzt schon und für immer eine gültige Antwort zu finden. Das hängt einerseits mit dem grundsätzlich ungeklärten Verhältnis der Linken zur SPD zusammen, (das ellenlange Wahlprogramm sagt kein Wort dazu), sondern auch mit kaum vorliegenden Erfahrungen bzw. ihrer kritischen Auswertung des Tolerierens wie des Mitregierens.

Es steckt zwar Toleranz im Begriff der Tolerierung, aber die sollte – wie Goethe meinte – nur solange und insoweit gelten, bis die »Wahrheit« gefunden sei. Ist dieses Verständnis von Tolerierung für die Politik tauglich? Wohl kaum, denn in der Politik geht es um Interessen, um Klassen bedingte, von der gesellschaftlichen Lage und subjektiven Situation und Motivation abhängige Ziele und nicht um allgemeine Wahrheiten. Um es mit den Worten eines Toten zu sagen, dem keine aktuellen Interessen zu unterstellen sind: »Die ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft stellen sich zunächst dar als Interessen.« (Karl Marx)

Dies stets im Hinterkopf zu haben hilft, hinter dem taktischen Mittel von Tolerierung die beiderseitigen, meist miteinander verflochtenen Interessen, macht- und parteipolitische wie individuelle Karrierewünsche, durch alle verbalen Nebelvorhänge hindurch zu entdecken.

Ein praktisches Beispiel für die Bundesrepublik mit (ambivalenten) Erfahrungswert ist die bis jetzt einmalig erprobte Tolerierung der sozialdemokratischen Höppner-Regierung in Sachsen-Anhalt, die ausführlicher von Bernd Krause analysiert worden ist.

1994 hatte sich die SPD (wohl vom damaligen Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine gedrängt) dazu durchgerungen, den von Rudolf Scharping Scharping initiierten Unvereinbarkeitsbeschluss insoweit aufzugeben, als es den Landesverbänden überlassen sein sollte, die Frage von Koalition oder Tolerierung selbst zu entscheiden. In Sachsen-Anhalt hatten sich CDU und FDP durch Gehälteraffären und andere Eskapaden trotz Regierungsumbildungen soweit diskreditiert, dass alles auf einen Wechsel hindeutete. Die im Wahlkampf praktizierte Dreckschleuderpolitik ließen ein Zusammengehen der SPD mit diesen Parteien kaum erwarten, sodass der damalige Landesvorsitzende der PDS, Roland Claus, die alle überraschende Idee einer Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung ins Spiel brachte.

Neben dem empörten Geheul der Bürgerblockparteien erklärte aus wahltaktischer Sicht auch die SPD dies zunächst einmal für ausgeschlossen, für eine reine Zumutung. Da das Wahlergebnis aber als einzige parlamentarische Alternative eine Minderheitsregierung zuließ, (von 116 Abgeordnetensitzen errang die SPD als Wahlsieger 45, die CDU 28, die PDS 25, erstmalig auch die rechtsextreme DVU 16 Mandate), wagten Höppner, der SPD-Fraktionsvorsitzender Rüdiger Fikentscher und eine gewachsene Zahl eher linker Sozialdemokraten diesen, für sie kühnen Schritt. Sie meinten offenbar, von der Wende geprägt, dass Demokratie nicht mit der Stimmabgabe ende, verantwortungsvolle Politik nicht allein machtpolitischer Arithmetik oder alten ideologischen Feindbildern, sondern den längerfristigen Interessen der Menschen und ihren Intentionen folgen müsse. Und natürlich sollte die PDS dabei gleich mit entzaubert werden, während die Verlockung der Macht sicher auch ihren Zauber entfaltete.

Nach vier Jahre von 1994 bis 1998 mit einer zwar recht bescheidenen aber insgesamt positiven Bilanz und manchen Fehlern, wie sie ein solcher Lernprozess unvermeidlich für beide Seiten mit sich bringt, stand nun – drei Monate vor der Bundestagswahl mit Gerhard Schröder als Kanzlerkandidaten - die erneute Tolerierung bzw. ein Mitregieren an.

Das Magdeburger Modell hatte aber aus der Sicht von Schröder und Co. keines der beiden angestrebten Ziele erreicht. Die SPD hatte zwar etwas hinzugewonnen (von 34 Prozent auf 35,9 Prozent, allerdings bei einer deutlich höheren Wahlbeteiligung von 54,8 Prozent auf 71,5 Prozent), aber zugleich hatte sich die PDS – statt reduziert zu werden - mit 19,6 Prozent stabilisiert. Eine solche Entwicklung passte aber in keiner Weise in das von Schröder längst favorisierte Umsteuern auf den neoliberalen Agendakurs. So gratulierte er Höppner demonstrativ nicht zum erneuten Wahlsieg. Es zeugte von Charakter und politischer Statur, dass dieser trotz vielfacher Angriffe der Konservativen zwar erneut vor einer Koalition mit der PDS zurückschreckte, obwohl die sich ihm bis an die Grenze der Selbstaufgabe anbot, aber an seinem Tolerierungsmodell festhielt.

In einer Gastkolumne des Verfassers in »neues deutschland« im Juni 1998 hieß es dazu: »Für diese Kräfte war die qualifizierte Fortsetzung der bisherigen Politik wichtiger als die geforderte Einhaltung einer durch die westdeutsche Mediendemokratie geprägten Parteiräson. Es sind Sozialdemokraten, die sich lieber als Enkel Willy Brandts sehen denn als CDU-Erfüllungsgehilfen. Sie haben dementsprechend eine Taktik gewählt, aus der sich eine strategische Orientierung einer kooperierenden gesamtdeutschen Linken entwickeln könnte, durch die längerfristig den Konservativen die Staatsmacht verloren ginge. Ganz anders sehen das in der SPD jene Kräfte, die auf den Gewinn der ›neuen Mitte‹ und das plötzlich entdeckte Charisma Gerhard Schröders setzen. Eine brüchige Basis des Erfolgs.«

Wie brüchig diese Basis sein sollte, zeigte zuerst das Debakel bei der Landtagswahl im März 2002 in Sachsen-Anhalt. Während die PDS mit 21 Prozent mit einem blauen Auge davon kam, rutschte die SPD mit einem Minus von rund 14 Prozent auf 21,3 Prozent ab, und dies trotz eines Rückgangs der Wahlbeteiligung um 15 Prozent. Das Scheitern der Minderheitsregierung Höppners war sicher ein Ergebnis des halbherzig betriebenen Tolerierungsmodells, war aber primär eine Folge der von Schröder betriebenen Sozialpolitik und den bundesweiten Rahmenbedingungen, der die Höppner-SPD kaum etwas entgegensetzen konnte. (Der Erfolg bei der Bundestagswahl im September 2002 war vor allem der offiziellen Weigerung, sich am Irak-Krieg zu beteiligen, zu danken. In Sachsen-Anhalt bekam die Landes-SPD 43,2 Prozent vor allem dank linker Wechselwähler, weil auch hier die selbstmörderische Losung der PDS »Stoiber verhindern« wirkte, auch eine verdeckte Form von »Tolerierung«.)

Aber von nun an standen sich SPD und PDS auf Augenhöhe gegenüber und 2006 und 2011 wurde die SPD von der linken Konkurrentin sogar überflügelt (2006: 24 zu 26, 2011: 26 zu 29 Mandate). Hatte das Tolerierungsmodell zwar für die Menschen in Sachsen-Anhalt nur wenig gebracht, so stellte es – wie dann auch in Thüringen – die jeweiligen Landesverbände vor eine neue politische Herausforderung, allein dadurch, dass die festgelegten Rollen von Senior- oder Juniorpartner vakant wurden.

Man darf wohl davon ausgehen, dass sich auf Dauer keine Mehrheit in der SPD damit abfinden wird, als Erfüllungsgehilfe der Bürgerblockparteien zu dienen, nur wegen der Weigerung, einen linken Ministerpräsidenten zu akzeptieren. In Mecklenburg-Vorpommern und später in Brandenburg wurde schon mal die andere Variante geprobt, und es ist zu vermuten, dass nicht zuletzt auch das Magdeburger Beispiel ein Anstoß gewesen ist. So hatte Höppner seinerzeit Wowereit geraten, als der in Berlin vor der Frage tolerieren oder koalieren stand: »Du hast die Wahl: Entweder hast du die PDS in der Verantwortung am Kabinettstisch oder du hast sie mit den protestierenden Gruppen auf der Straße. Letzteres kann viel unangenehmer sein.«

Es ist zwar nicht zu erwarten, dass für die Bundesebene auch nur mittelfristig die Frage der Tolerierung akut würde, das könnte nur über die Entwicklung in einigen Bundesländern mit starker Linkspartei eintreten. Sich aber mit den Lehren aus dem Magdeburger Modell wie aus der zeitweiligen oder noch fortbestehenden Regierungsbeteiligung zu befassen, wäre sinnvoll. Ohne vollständig sein zu können, scheint einiges klar und unverzichtbar:

Vor jedem Tolerierungsangebot muss zunächst geprüft werden, welche übereinstimmenden oder zumindest ähnlichen Interessen in der Politik (dem Programm usw.) der zu tolerierenden Partei bzw. dem eventuellen Koalitionspartner mit den eigenen tagespolitischen Zielen bestehen. Von vornherein muss klar gesagt werden, welche »roten Haltelinien« die Minderheitsregierung nicht überschreiten darf, will sie die Unterstützung durch den tolerierenden Part nicht verlieren. Auch der mögliche »Bruch« ist sozusagen mit zu vereinbaren, will die Partei glaubwürdig für ihre Wähler bleiben. Schließen die Rahmenbedingungen, insbesondere die finanziellen, es aus, auch nur einige wenige der eigenen Wahlkampfforderungen zu realisieren, verböte sich jede Form der Tolerierung, die im Massenbewusstsein zu recht als Mitregieren wahrgenommen wird.

Tolerierung ist im Grunde die Simulation von Mitregierungsverantwortung. Da mehr noch wie Politik im Allgemeinen die Form von Tolerierung/Koalition auf das Finden von tragfähigen Kompromissen hinausläuft, kommt der Kommunizierung solcher Ergebnisse mit den Wählern und Mitgliedern existenzielle Bedeutung zu. Was bisher so gut wie völlig fehlte und sogar ausgeschlossen wurde, ist die Verbindung von Mitregieren/Tolerieren und außerparlamentarischer Massenmobilisierung zur Durchsetzung umstrittener Ziele im Parlament und in der Regierung.

Zweitens müsste die Frage geklärt werden, was man mithilfe einer solchen Tolerierung (und das gilt mutatis mutandis auch für die Koalitionsfrage) in Bezug auf den anderen Akteur bewirken und erreichen will, denn der ist – wenn schon kein politischer Feind – zumindest ein Konkurrent, bleibt Gegenspieler im Kampf um größeren politisch-parlamentarischen und gesellschaftlichen Einfluss. Es ist das (legitime) Ziel, die Stellung und das Gewicht der eigenen Partei im Parteiensystem zu verbessern. Nur der Junior-Partner, der zumindest in etwa auf Augenhöhe verhandeln kann, hat die Chance, der Rolle als nützlicher Idiot zu entgehen und nicht bei nächster Gelegenheit vom Wähler abgestraft zu werden.

Die Position und praktische Politik der SPD-Spitze war bis jetzt in dieser Frage immer offen und eindeutig: Die Linke destruieren oder »den ganzen Laden übernehmen« (Erhard Eppler). Es soll - wie Lafontaine berichtet – ausgerechnet Gerhard Schröder Anfang der 1990er Jahre gewesen sein, der als erster für die Erprobung einer SPD-PDS-Länderregierung eingetreten sei, weil die PDS-Minister Fehler machen würden und die Partei in der Verantwortung sehr schnell ihren Populismus aufgeben müsste. Sein Vorbild war der französische Staatspräsident François Mitterrand, der dank der Berufung von FKP-Ministern die Kommunisten völlig destabilisiert und ihre Wählerschaft marginalisiert hatte - mit Folgen, die bis heute spürbar sind.

Reinhard Höppner hat auch dies zutreffend geschildert. Ihre Politik des »Wandels durch Annäherung« habe die PDS erheblich »gewandelt«. Ob der Wahlbonus für die Linkspartei – die sie die SPD überflügeln ließ – dauerhaft wirkt, ist noch offen. (In Berlin zeigt sich der entgegengesetzte Trend.)

Soll Tolerieren/Koalieren eine tragfähige und dauerhafte Zukunftsoption werden, muss es das Ziel sein, den linken Flügel in der Sozialdemokratie zu stärken, denn mit dieser Partei als Ganzes ginge das nur bei Verzicht auf die eigene Identität als sozialistischer Programmpartei. Eine solche Strategie muss - um es mit dem Wort eines bekannten Kabarettisten zu sagen – auf die Stärkung der »AG Sozialdemokraten in der SPD« zielen, um eine realistische Option für einen Politikwechsel zumindest auf einigen Gebieten zu werden.

Um dafür die Voraussetzungen zu schaffen ist es notwendig, in den Ländern mit starker Linkspartei nicht allein die Frage des Ob einer Tolerierung oder Koalition, sondern angesichts des Vorliegens positiver wie negativer Erfahrungen auch das Wie und das Wozu zu diskutieren.

Seine eigene Seele nicht verkaufen und alles tun, damit die Sozialdemokratie ihre Seele wiederfindet, könnte man diese Doppelstrategie nennen. Das braucht Zeit, und deshalb kann sich die Linke glücklich schätzen, dass seitens der jetzigen SPD-Spitze kein Eingehen auf ein Tolerierungsangebot droht.

Prof. Heinz Niemann hatte in Leipzig und Berlin Lehraufträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Er war 1990 gewählter Gründungsdirektor des Instituts für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität.

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