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Warum Marx? Warum nicht Marx?

Wie die Berlin-Brandenburgische Akademie einen UNESCO-Beschluss feierte

Ein ungewöhnlicher Vorgang: Der Akademiepräsident gebot, niemanden mehr hereinzulassen, die Saaltüren zu schließen. Mit einem Augenzwinkern begründete Günter Stock sodann, er sorge sich um die Belastbarkeit der Decken- respektive Fußbodenkonstruktion im altehrwürdigen Haus am Berliner Gendarmenmarkt. Wer oder was trieb die vielen Menschen Dienstagabend in den Einstein-Saal in der fünften Etage der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW)? - Karl Marx. Und die Aufnahme zweier seiner Werke, des »Kommunistischen Manifests« und des »Kapitals«, in das Weltdokumentenerbe.

Für Gerald Hubmann, Arbeitsstellenleiter der von der BBAW editierten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), eine »nicht nur erfreuliche, sondern gewichtige Entscheidung«, da sich die Bedeutung von Marx nicht im Marxismus erschöpfe. Ungeachtet seines offensichtlichen und von Stock geteilten Stolzes über diese Ehrung wollte Hubmann von Joachim-Felix Leonhard, Vorsitzender des deutschen Nominierungskomitees für das UNESCO-Programm »Memory of the World«, doch noch exakt wissen, wie es zu dieser Entscheidung in Südkorea kam. »Warum Marx?«, fragte der MEGA-Mann. Der Ex-Staatssekretär (Wiesbaden) erwiderte: »Warum nicht Marx?« Obwohl er keine Interna ausplaudern wollte, ließ Leonhard zur Freude aller wissen: Der Beschluss war unstrittig.

Im Gegensatz zu Deutschland genießt Marx weltweit große Sympathie und reges Interesse. Leonhard erinnerte sich, dass ihm auf der Suche nach deutschen Vorschlägen für das Weltdokumentenerbe bereits Ende der 90er Jahre die Idee kam: »Gab es da nicht einen in Trier geborenen Philosophen?« Woraufhin ein deutscher Ministerialbeamter ihn erschreckt gefragt habe: »Sie meinen doch nicht etwa ...?« Doch. Man müsse nicht Marxist sein, um sich mit Marx zu beschäftigen, sagte Leonhard. Über Marx erschließe sich die Philosophie des 19. Jahrhunderts, »die das europäische Wertesystem geprägt hat«.

Für Beatrix Bouvier, langjährige Leiterin des unter der Obhut der Friedrich-Ebert-Stiftung stehenden Karl-Marx-Hauses in Trier (»ein Erinnerungsort von internationalem Rang«), ist Marx ein Beispiel dafür, dass es lohne, ja Spaß mache, sich geistig anzustrengen und mit gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Birger P. Priddat, Professor für Politische Ökonomie (sic!) an der Universität Witten/Herdecke, betonte: »Marx ist der größte deutsche Ökonom!« Dessen Studien zur Asymmetrie zwischen Wachstum und Verteilung, Armut und Reichtum, zu Eigentum, Macht und Herrschaft seien vor allem in Ländern des Südens angesagt. Nicht zufällig werden sieben Bundesstaaten Indiens marxistisch regiert.

Michael Quante, Philosophieprofessor an der Universität Münster, hat deutsche Studenten hingegen erst einmal aufklären müssen, dass Marx kein russischer Theoretiker war. Was ein erstauntes Raunen unter den Akademikern im Saal hervorrief. Für Quante sind Marxens Texte »ein Werkzeugkasten« und dessen »Kritik im Handgemenge« nacheifernswert. Harald Bluhm, Professor für Politikwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und MEGA-Projektleiter, nannte Marx einen akademischen Außenseiter, der »in der Ideengeschichte sehr wichtig ist« mit seinem antinaturalistischen, antipositivistischen Konzept und in Sonderheit mit seiner »großartigen Kapitalismuskritik«, die nicht zuletzt die tendenzielle Demokratiefeindlichkeit des Kapitals entlarve. Auch für den wegen einer Notlandung in Hannover verspätet »eingeflogenen« Forschungsdirektor des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, Marcel van der Linden, ist das Anknüpfen an den kritischen Denker eine Selbstverständlichkeit. Gleich seinen Kollegen wundert er sich nicht, dass soziale Bewegungen sich heute noch an Marx orientieren.

Einen überraschenden Dämpfer erteilte der kollektiven Euphorie gegen Ende der Veranstaltung ein älterer Herr aus dem Publikum. Er verlas den ersten Satz aus dem ersten Kapitel des Manifests - »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen« - und fragte entrüstet: »Wie kann man so etwas zum Welterbe erklären?!« Außerdem habe Lenin im Gefolge von Marx ein die Welt terrorisierendes System geschaffen. Geduldig erklärten die Gelehrten dem Manne historische Kontexte. So bemerkte van der Linden, dass es Stalin war, der den Marxismus-Leninismus kreierte und zu einer Religion erhob. Dass der inkriminierte Satz an und für sich wahr ist, wagte indes keiner jenem Herrn offen zu sagen.

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