»Rückhaltlos und ohne Angst«

Hannah Dübgen: »Strom«, ein wahrhaft weltumspannender Roman

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Junge Autoren reden gern von ihren eignen Lebensschwierigkeiten - wenn nicht gleich in erster Person, dann versteckt hinter anderen. Da ist dieses Buch besonders. Hannah Dübgen, Jahrgang 1977, hat sich für ihren ersten Roman eine wahrhaft weltumspannende Geschichte ausgedacht.

Menschen aus vier Ländern - die Spannung kommt allein schon daher, dass man sich fragt, ob und wie sie die denn zusammenführen wird. Sie scheinen einander so fremd wie nur irgendwas: Jason, der für eine amerikanische Investmentfirma in Tokio den Kauf eines japanischen Traditionsunternehmens in die Wege leiten soll; Makiko, japanische Pianistin mit Weltgeltung bereits, in Paris lebend; der Zoologe Luiz, der in Brasilien aufwuchs, mit seiner jüdischen Frau und zwei Kindern in Tel Aviv wohnt und nebenbei dort noch eine brasilianische Geliebte hat; Ada, aus Berlin, die mit ihrer Freundin Judith einen Dokumentarfilm über das Leben im Gazastreifen fertiggestellt hat, nun aber dem Sterben Judiths zusehen muss - Hirntumor.

Kapitel für Kapitel erzählt Hannah Dübgen abwechselnd von den Erlebnissen ihrer Protagonisten, deren Vergangenheit, deren Umgebung kommen ins Spiel. Natürlich haben sie ihre eigenen Sorgen - Jasons geschäftlicher Ehrgeiz wird enttäuscht, Makiko, ganz ihrer Kunst hingegeben, erfährt, dass sie schwanger ist, Luiz ist hin- und hergerissen zwischen Rachel und Joanna, Ada ist voller Trauer ... Noch wissen sie nichts voneinander. Wie werden sie sich einander nähern?

Es darf hier nicht verraten werden, nur so viel: Es offenbart sich in diesem Roman eine Geisteshaltung, von der wir hoffen, dass sie für unsere Gegenwart mehr und mehr bestimmend wird. Wenn Menschen früher in engen Lebenskreisen eingeschlossen blieben, ist es heute normal, beweglich zu sein. Wer nur einigermaßen wach durchs Leben geht, den betrifft auch, was in anderen Ländern geschieht, weiß von Kriegen, Klimaveränderungen, Rohstoffreserven, die zu Ende gehen, und muss dabei auch mit dem eigenen Fortkommen beschäftigt sein, ist mehr oder weniger eingespannt in ein großes Rad von Aufgaben, sich selbst verpflichtet, aber doch nicht ganz nur sich selbst.

»Strom« - langsam enthüllt sich, was der Titel meint: nämlich das Verbindende - vertikal wie horizontal - zwischen Vergangenheit und Zukunft und in der Gegenwart jenes riesige Netzwerk des Aufeinander-Bezogenseins, das auch dann wirksam vorhanden ist, wenn Menschen sich vereinzelt fühlen. Der Strom, »den wir in uns spüren, wenn wir innehalten«, heißt es an einer Stelle, »den wir sogar hören können, wenn wir darauf achten, dieses Rauschen hinter dem Ticken der Uhren, dieser Fluss an Energie, der immerzu nach vorne zieht und uns fühlen lässt, dass wir da sind, hier und jetzt in unserer Zeit«. Das sagt Jason zu der Japanerin Mai (die übrigens Makikos Cousine ist, da tut sich schon insgeheim eine Beziehung auf). Mai aber fügt dem noch eine andere Dimension hinzu. Sie spricht von Orten, »die Spuren tragen, die von Menschen erzählen, selbst dann, wenn diese schon fort oder nicht mehr sind. Ein Ort ..., der auch dann nicht vergisst, wenn wir uns nicht mehr erinnern können ...«

Strom: die Energie, die Jason zum Geschäftserfolg führen soll, die Makiko in den Fingern spürt, wenn sie spielt, die Luiz zu Joanna zieht und die auch seine Ehefrau Rebecca beherrscht, denn sie ist in der israelischen Friedensbewegung »Peace now« aktiv. Da deutet sich schon mal eine geistige Brücke zu Ada an, die mit ganzem Herzen dafür einsteht, dass in Palästina endlich ein normales, friedliches Leben möglich sein sollte. Strom, das ist aber auch schlicht elektrische Energie, die aus Sonne und Wind gewonnen werden kann und mit der irgendwann Autos lautlos fahren werden. Man würde dazu »bloß noch« leistungsstarke Akkumulatoren entwickeln müssen.

So verbindet sich das Technische mit dem Globalpolitischen und mit dem Bewusstseinsmäßigen. Unter Strom - das heißt eben nicht nur mit sich selbst beschäftigt, niedergeschlagen, lethargisch oder lediglich genusssüchtig zu sein. Das heißt, etwas wollen, sich frei dafür machen - »rückhaltlos und ohne Angst«. An diesem Punkt mag für Hannah Dübgen dann doch das Eigene, das für sich und andere Erstrebte in diesen gelungenen Roman mit eingeflossen sein.

Hannah Dübgen: Strom. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag. 272 S., geb., 14,90 €.

Heute, 12.9., 18 Uhr, liest Hannah Dübgen zusammen mit dem israelischen Autor Eshkol Nevo im Haus der Berliner Festspiele.

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