Wie Pflegebedürftigen geholfen werden soll

Teil IX der nd-Serie zur Bundestagswahl

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.
Welche Antworten die Bundestagsparteien auf umstrittenen politischen Themenfeldern geben, untersucht in ausgewählten Bereichen die nd-Serie »Systemvergleich«. Heute: Pflege. Einige Parteien scheinen sich in den Programmen der jeweils linken Nachbarn zu bedienen.

Kaum ein Problemb dieser Gesellschaft wird so gnadenlos unter den Tisch gekehrt wie die Pflege. Das gilt auch für diesen Wahlkampf, in dem sie wie in den Wahljahren zuvor kein Thema war. Pflege gilt als kleines Anhängsel der Gesundheitspolitik und soll reformiert werden seit 1995 die Pflegeversicherung eingeführt wurde. Sie sichert für einen monatlichen Beitrag von je 1,025 Prozent für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie zusätzliche 0,25 Prozent für Kinderlose einen Teil der Pflegekosten im Alters- oder Krankheitsfall ab. Aber es ist eben immer nur ein Teil und die privaten Belastungen sind hoch - für Menschen mit geringen Einkommen kaum zu schultern. Zweieinhalb Millionen Bürger beziehen derzeit Leistungen aus dieser Versicherung, knapp 70 Prozent davon - das sind 1,6 Millionen Menschen - werden ambulant versorgt, der andere Teil lebt in Pflegeeinrichtungen. 20,9 Milliarden Mark gaben die Pflegekassen 2011 aus, aber im Schnitt kamen von jedem Pflegebedürftigen im Laufe seines Lebens 31 000 Euro dazu.

Interessant wird das Thema, wenn ein neuer »Pflegeskandal« die Runde macht und vernachlässigte, hilflose Heimbewohner die Titelseiten der Boulevardmedien erobern. Dabei gäbe es auch ohne diese bedauernswerten Vorkommnisse Anlass genug, sich damit auseinanderzusetzen. Immerhin gehen Experten davon aus, dass 2030 eine Million mehr Menschen auf die Pflegeversicherung zurückgreifen wird, die Zahl der Demenzkranken wird sich in den nächsten vier Jahrzehnten verdoppeln. Die Fokussierung auf Pflegeheime, mit denen große Unternehmen gute Gewinne machen wollten, trug viele Jahre dazu bei, aus der Pflege ein Geschäft zu machen. Billige, gering qualifizierte Arbeitskräfte und die Pflege im Minutentakt wurden zum Synonym für die Altenpflege. Menschenunwürdig. Von jedermann gefürchtet.

Wie die Parteien die Pflege organisieren wollen

CDU

● Die Pflegeversicherung soll weiterentwickelt werden

● Der Einzelne soll Eigenverantwortung und Eigeninitiative wahrnehmen.

● Es soll bei der staatlichen Förderung einer privaten Pflegezusatzversicherung von fünf Euro im Monat bleiben.

● Pflegebedürftige Menschen sollen ihren Alltag in der eigenen Wohnung bewältigen können.

● Besonders auf dem Land will man Betreuungsangebote, -einrichtungen und -strukturen entwickeln, die älteren Menschen eine dauerhaft gute Versorgung gewährleisten.

● Ein hohes Niveau der Pflegeleistungen soll sichergestellt werden.

● Steigenden Zuzahlungsbedarf zu Lasten der Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Sozialhilfeträger soll verhindert werden.

● Eine differenzierte Bestimmung der Pflegebedürftigkeit soll Menschen mit Demenz zugute kommen

● Der Beitrag zur Pflegeversicherung soll sich moderat erhöhen.

SPD

● Die Bürgerversicherung wird als Krankenvoll- und Pflegeversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger eingeführt.

● Um Pflegebedürftigen in verschiedenen Lebenslagen, vor allem bei Demenz, gerechter werden zu können, muss ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt werden.

● Kernelement einer Pflegereform soll es sein, die Leistungen so zu differenzieren, dass sie den Betroffenen im Gegensatz zur Minutenpflege besser gerecht werden.

● Mit einer flexiblen Pflegezeit, die

mit Rechtsanspruch auf Job-Rückkehr und Lohnersatzleistung ausgestattet ist, soll Angehörigen geholfen werden.

● Soziale Arbeit soll durch einen speziellen Branchentarifvertrag aufgewertet werden, den die SPD für allgemein verbindlich erklären will. Damit soll dem Lohndumping vorgebeugt werden.

● In Pflegeeinrichtungen soll es Personalmindeststandards geben.

LINKE

● Der neue Pflegebegriff soll neben Menschen mit körperlichen Einschränkungen auch jene mit kognitive und/oder psychischen Einschränkungen erfassen.

● Menschen mit Demenzerkrankungen sind endlich angemessen in die Pflegeversicherung einzubeziehen.

● Aus der Teilkaskoversicherung muss perspektivisch eine Vollversicherung werden

● Für die Beiträge zu einer solidarischen Pflegeversicherung sollen alle Einkommen einbezogen werden, die Teil der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ist

● Menschen sollen selbstbestimmt entscheiden, ob sie ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflege- oder Assistenzleistungen in Anspruch nehmen wollen.

● Stopp der mit fünf Euro im Monat geförderten privaten Pflegezusatzversicherung

● Pflegekräfte sollen besser bezahlt und Minijobs in Pflegeeinrichtungen in reguläre und tariflich bezahlte Arbeitsplätze umgewandelt werden.

● Mindestens die Hälfte des Pflegepersonals sollen Fachkräfte sein.

FDP

● Zur Finanzierung der Pflegekosten setzt die Partei auf eine Stärkung der Kapitaldeckung. Darauf soll die private Pflege-Vorsorgeförderung ausgerichtet sein.

● Die bisher getrennten Ausbildungen zum Kinderkranken-, Kranken- und Altenpfleger sollen zu einer generalistischen Pflegeausbildung mit einer weiteren Entwicklungsperspektive ausgebaut werden

● Um den speziellen Problemen von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen gerecht zu werden, sollen sich die Kriterien zur Pflegebedürftigkeit von körperlichen Verrichtungen hin zu einer Einstufung anhand der noch vorhandenen Selbstständigkeit ändern.

● Der weitere Abbau von Bürokratie und Dokumentationspflichten wird angestrebt, damit so viel Zeit wie möglich für die eigentliche Pflege verbleibt. Es soll stärker auf die Kontrolle von Ergebnisqualität statt auf die Vorgabe von Strukturen und Prozessen gesetzt werden.

● Die Altersmedizin soll stärker in den Fokus medizinischer Forschung rücken

Grüne

● In die Finanzierung einer Pflege-Bürgerversicherung sollen alle Bürgerinnen und alle Einkommen einbezogen werden.

● Der Pflegebedürftigkeitsbegriff soll erweitert werden, um die zunehmende Zahl der Demenzkranken besser zu versorgen.

● Pflegebedürftigkeit soll verhindert oder verlangsamt werden, indem wirksame Anreize für eine bessere Prävention und Rehabilitation gesetzt werden.

● Die Partei will es Pflegebedürftigen ermöglichen, durch ein persönliches Budget die Pflege nach eigenem Wunsch zu organisieren.

● Anstelle von traditionellen Groß- und Sondereinrichtungen für Pflegebedürftige sollen Orte geschaffen werden, an denen Pflege und Betreuung in einer häuslichen Wohnumgebung stattfinden kann.

● In der Pflegeausbildung plädieren die Grünen für eine Ausbildungsumlage in allen Bundesländern.

● Die Partei setzt sich für angemessene Personalschlüssel und den Abbau unnötiger Bürokratie ein.

Inzwischen hat sich auch in der Politik herumgesprochen, dass in die Pflege auch die vielen Altersverwirrten mit einbezogen werden müssen und wohnortnahe Betreuung oder die Einrichtung von Wohngruppen sowohl angenehmer für die Betroffenen als auch kostengünstiger für die Gesellschaft sind. Große Worte fielen - etwa als der 2009 amtierende Bundesgesundheitsminister von den Liberalen, Philipp Rösler das Jahr der Pflege ausrief und die Umsetzung seinem Nachfolger Daniel Bahr von der gleichen Partei überließ. Der hatte wohl Angst, sich an dem heißen Thema die Finger zu verbrennen. Er versuchte Zeit zu gewinnen, indem er einen Fachbeirat, der den Pflegebegriff schon im Auftrag der schwarz-roten Koalition neu und durchaus sinnvoll bestimmt hatte, noch einmal mit der gleichen Aufgabe losschickte.

Als es sich gar nicht mehr vermeiden ließ, verabschiedete er ein Pflegeneuausrichtungsgesetz, das an der Größe der Aufgabe scheitert. Es hilft Demenzkranken und ihren Angehörigen mit einer bescheidenen Summe und verspricht Versicherten, die eine private Zusatzvorsorge abschließen, die lächerliche Summe von fünf Euro im Monat. Profitieren können davon nur Versicherungsunternehmen.

In den Programmen der Regierungsparteien sieht man sich bei der eingeschlagenen weiteren Privatisierung des Pflegerisikos auf dem richtigen Weg, es gibt keinerlei Hinweise darauf, die Pflege wirklich zu reformieren. Das müsste alle Menschen hellhörig machen, die zu wenig verdienen, um privat vorsorgen zu können - darunter auch die in der Pflege Beschäftigten. Für sie werden sich die Bedingungen kaum verbessern, denn die allgemeinen Formulierungen bei der FDP und der CDU lassen darauf schließen, dass es wieder einmal nur um Worte geht. Kaum ein Vorhaben lässt sich fassen, schon gar nicht abrechnen. Eine Reform des Pflegesystems wird ohne Druck wohl nie in Angriff genommen, wenn diese Regierung im Amt bleibt. Kritisiert wird sie für ihre Versäumnisse sowohl von der Wissenschaft als auch von den Gewerkschaften und sämtlichen Sozialverbänden.

Etwas anders sehen die Pläne bei LINKEN, Grünen und Sozialdemokraten aus. Sie alle wollen die Pflege in eine Bürgerversicherung integrieren und bis auf die SPD auch alle Bürger und alle Einkommen mit einbeziehen. Gesetzt wird auf alternative Betreuung und wohnortnahe Versorgung. Pflegekräfte sollen besser ausgebildet und bezahlt werden. Obwohl Pflegeforscher wie der Kölner Frank Weidner auch hier noch ein schlüssiges Gesamtkonzept vermissen, könnten sich die drei Konzepte vielleicht noch am sinnvollsten zusammenstricken lassen.

»Markt und Wettbewerb«, findet Pflegeexpertin Kathrin Senger-Schäfer von der LINKEN-Fraktion im Bundestag, »tragen nicht dazu bei, dass sich gute Pflegequalität durchsetzt.« Das führe nur dazu, Gewinnmaximierung und Rendite über das Menschen- und Gemeinwohl zu setzen und öffne schwarzen Schafen Tür und Tor. Pflege müsse als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge begriffen werden.

Nach Angaben von FrankWeidner geben Länder wie Schweden, Dänemark oder die Niederlande fast das Dreifache für Pflege aus als Deutschland. Dort gelte dieser Lebensbereich auch als Wirtschaftsfaktor. Die Beschäftigten würden besser bezahlt und die Bedürftigen besser gepflegt. Im Grunde profitierten so alle. Doch um so einen Zustand zu erreichen, muss erst einmal Geld ausgegeben werden. Das könnte erklären, warum Pflegepolitik im Wahlkampf keine Rolle spielt.

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