»Ich bin ihr alle«

Clarice Lispector, eine brasilianische Ikone

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie war eines der größten Talente der südamerikanischen Literatur, ein Star der Weltkultur, in Brasilien ist sie eine Ikone: die Erzählerin Clarice Lispector, geboren 1920. Faszinierend wie eine Wildkatze soll sie gewesen sein, eine Frau von schockierender Schönheit und schneidender Intelligenz. Sie über sich: »Die Leute hier starren mich an, als wäre ich aus dem Zoo entlaufen. Das finde ich ganz richtig so.«

»Die Sphinx von Rio de Janeiro« - so nennt sie der US-amerikanische Wissenschaftler Benjamin Moser. Moser wurde 1976 in Texas geboren, er lebt in Holland. Jahrelang bereiste er die Welt der Lispector, fand vergessene Dokumente, sprach mit Freunden und Verwandten. Dann, 2009, publizierte er eine große Biografie. Ein Meisterstück erzählender Lebensgeschichte - nun erscheint es auf Deutsch. Hin und wieder gibt es zwar Längen im Text, Wiederholungen, doch der Tiefgang der Studie entschädigt für die Mängel.

Moser folgt einer schlingernden Lebensfahrt; er ergründet Schreib-motive, und ein Stück weit ergründet er auch den Mythos der Dichterin. »Clarice Lispector galt einst als Pseudonym. Wo genau sie zur Welt kam und wie alt sie war, schien ebenfalls ungewiss zu sein. Ihre Nationalität wurde in Frage gestellt, und ihre Muttersprache ließ sich nicht bestimmen. Während der eine Experte sie als konservativ bezeichnet, stuft ein anderer sie als Kommunistin ein. Wieder andere behaupten, sie sei eine fromme Katholikin gewesen, obwohl sie Jüdin war.«

Clarice Lispector, geboren 1920 in einem Schtetl der Ukraine, in einem Land des Schreckens, geprägt von Bürgerkrieg, Hunger und Pogromen. In ihrem Werk wird Lispector dieses Trauma umkreisen, das Trauma von Herkunft und Identität. Sie schrieb: »Ich habe mich vor so vielen Jahren aus den Augen verloren, dass ich zögere, mich finden zu wollen. Ich habe Angst davor, anzufangen. Ich bin so gefährlich.«

Die Familie flieht aus Ost-Europa nach Brasilien, in den ländlichen Norden; später zieht sie nach Rio. Lispector studiert Jura, wird Journalistin, sie heiratet, bekommt zwei Söhne. Mit ihrem Mann, einem Diplomaten, lebt sie in Neapel, Bern, Washington. Dann, Ende der Fünfziger, lässt sie sich scheiden und geht zurück nach Rio de Janeiro - Clarice Lispector, eine Frau mit zwei Wesen: exzentrisch und konventionell, offen und abweisend. Nur in der Literatur kann Clarice Lispector die Kluft überwinden - indem sie die Fremdheit, das Anderssein darstellt. »Ich schreibe für mich, damit ich spüre, wie meine Seele spricht und singt, manchmal auch weint.«

1943 erscheint ihr erster Roman, da ist Clarice Lispector eben 23. Der Titel: »Nahe dem wilden Herzen«. Das Debüt wird zur Sensation. Bislang drehte sich Brasiliens Literatur um das Äußere, das Nationale, Regionale. Plötzlich dringt eine Autorin vor in die Gefühlswelt einer Protagonistin. Die Leser sind begeistert, die Rezensenten aufgeregt. Sie vergleichen sie mit Virginia Woolf, Katherine Mansfield, mit Dostojewski und Kafka, Gide und Proust.

1946 kommt Lispectors zweiter Roman heraus. »Der Lüster«. Wieder ist eine junge Frau die Hauptfigur, eine Frau zwischen zwei Polen: unauffällig nach außen, isoliert, doch mit einem stürmischen Innenleben. Fabel und Figuren sind kaum zu erfassen. Ein schwieriges Buch. Eine Herausforderung. Es folgen weitere Romane, Erzählbände, Kinderbücher sowie luzide Artikel in großer Zahl. Das Gesamtwerk bestätigt den frühen Ruf der Autorin, das Besondere zu haben - eine Stimme ohne Vorläufer und Epigonen.

Ende 1977 stirbt Clarice Lispector an Krebs, in Rio, einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag. Der Mythos überlebt. Das Gesicht der brasilianischen Dichterin findet man heute auf Briefmarken, ihren Namen vor Immobilien, ihr Werk an Automaten in der U-Bahn. Auf Internet-Seiten treffen sich Hunderttausende Fans.

Ihr Biograf Benjamin Moser meint: »Die in ihrem Werk entblößte Seele gehört einer einzelnen Frau, doch in ihr entdeckt man die gesamte Spanne der menschlichen Erfahrung. Da sie so viel von ihrer intimen Erfahrung preisgab, konnte sie glaubhaft alles für jeden sein. Wie sie selbst sagte: ›Ich bin ihr alle‹.«

Benjamin Moser: Clarice Lispector. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. 584 S., geb., 36,95 €

Clarice Lispector: Nahe dem wilden Herzen. Aus dem Portugiesischen von Ray-Güde Mertin und Corinna Santa Cruz. 269 S., geb., 19,95 €.

Clarice Lispector: Der Lüster. Aus dem Portugiesischen von Luis Ruby. 366 S., geb., 22,95 €.
Alle Verlag Schöffling & Co.

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