Nahziel humanitärer Korridor

In einem Appell fordern Nichtregierungsorganisationen die EU auf, Asylanträge in Konsulaten und EU-Büros stellen zu können

  • Dieter Alexander Behr
  • Lesedauer: 3 Min.

Das jüngste Schiffsunglück vor Lampedusa hat die Forderung nach Bewegungsfreiheit mit hoher Dringlichkeit auf die politische Agenda gesetzt. Dass nur die freie Passage über das Mittelmeer das Sterben beenden kann, darauf wurde in den letzten Tagen vielfach hingewiesen.

Doch Kritik ist auch in Fragen von Flucht und Migration immer Kritik im Handgemenge. Nicht alle Forderungen, seien sie noch so sinnvoll, können zu jedem beliebigen Zeitpunkt durchgesetzt werden. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse müssen sich zuerst entsprechend geändert haben, der Druck auf die Grenzen einen kritischen Punkt überschreiten. Es ist nur allzu offensichtlich, dass die emanzipatorischen Kräfte diesseits und jenseits des Mittelmeers aktuell nicht stark genug sind, um bedingungslose Bewegungsfreiheit durchzusetzen. Was also tun?

In den letzten Tagen formulierte eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und antirassistischen Initiativen rund um das italienische Netzwerk »Melting Pot Europe« einen »Appell zur Öffnung eines humanitären Korridors«. Ihr Vorschlag: Die EU soll Kriegsflüchtlingen ermöglichen, direkt bei den europäischen Institutionen in Libyen, Ägypten, Syrien oder wo immer es nötig ist (z.B. in den Konsulaten oder anderen EU-Büros) ihren Asylwunsch vorzubringen und gefahrlos in die EU einzureisen.

Der Aufruf sorgte mitunter für Irritation: Diese Art von Reformismus erinnere an die Forderung nach einem humanitären Korridor im NATO-Krieg in Jugoslawien; die Strategie sei zu nahe an der Idee des einstigen deutschen Innenministers Otto Schily, die Flüchtlinge bereits in Nordafrika abzufangen, in so genannten Begrüßungslagern. Des Weiteren sorgte der Umstand, dass die italienische Regierung die Forderung aufgegriffen und sie an den EU-Ministerrat weitergeleitet hatte, für Unmut.

Mittlerweile ist allerdings gewaltiger Schwung in die Sache gekommen und NGOs aus ganz Europa verbreiten den Aufruf. Mit gutem Grund wird den Skeptikern entgegengehalten, dass es darum geht, konkrete Handlungsperspektiven mit rascher Umsetzbarkeit zu entwickeln. Fluchtwege zu öffnen und einen humanitären Korridor zu schaffen, könnte eine von vielen solcher Handlungsperspektiven sein.

Es wäre auch eine Möglichkeit, den Druck auf die europäischen Institutionen zu erhöhen. Um allerdings zu verhindern, dass - wie nach der Vorstellung Schilys - Asylverfahren gleich ganz in Nordafrika abgewickelt werden, wird in dem Aufruf verlangt, dass der Asylantrag erst nach Ankunft auf europäischem Boden behandelt wird. Eine weitere Forderung ist die nach einem »europäischen Asyl«. Wenn Flüchtlinge etwa in eine griechische Botschaft in Nordafrika flüchten würden und anschließend in die EU reisen könnten, müsste nicht Griechenland sie zwingend aufnehmen, sondern ein Land ihrer Wahl.

Die Forderung eines humanitären Korridors macht jedoch nur dann Sinn, wenn gleichzeitig eine grundlegende Kritik an der bisherigen Migrationspolitik der Europäischen Union, vor allem an der Aufrüstungslogik, geübt wird.

Wenn in Nordafrika und Westasien die europäischen Botschaften und Konsulate von verzweifelten Menschen gestürmt werden, ist es unsere Aufgabe, Netzwerke zu knüpfen und den Druck hierzulande zu verstärken. Der Aufruf ist in diesem Sinn auch ein wichtiges Puzzleteil in der Suche nach Verbündeten.

Was bei alldem allerdings nicht vergessen werden sollte, ist das Insistieren darauf, dass allein die Abschaffung von Frontex, das Einfrieren des Eurosur Programms sowie die Durchsetzung der bedingungslosen Bewegungsfreiheit das Sterben im Mittelmeer zur Geschichte machen wird.

Der Aufruf im Internet: www.meltingpot.org/Appello

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