Das Atmen und das Lachen

Wolf Wondratschek: »Mittwoch« - ein Roman als Menschenreigen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn möglich, verzichten Sie bitte auf das, was man einen Klappentext nennt», schrieb der Autor an seinen Verleger. Der ihm auch den Gefallen tat. Aber was soll›s, irgendwann muss ein Roman als Ganzes betrachtet sein - da leistet eine Rezension kaum anderes als das, was jeder Leser versucht. Vielleicht haben Kritiker mehr Übung darin, aber auch ihnen sollte es zuerst ums Verstehen, Verarbeiten dessen zu tun sein, was der Autor da aus seinem Kopf aufs Papier gebracht hat. Erst danach kommt das Bewerten, wobei es nicht immer am Text liegen muss, wenn man sich ein Buch nicht hat aneignen können.

Wolf Wondratschek lässt uns nicht ganz ohne Interpretationshilfe. Seinem Brief an den Verleger fügte er einen Satz von Jorge Luis Borges bei: «Er ließ seinen Geist schweifen, und er gab diesem Geist die Gestalt vieler Personen.» «Mittwoch»: Kaum zu glauben, dass sie Handlung des Romans nur einen Tag umfasst. Am Morgen wird in einem kleinen Hotel ein Einhundert-Euro-Schein hinterlegt, um ein Zimmer zu reservieren. Am Abend wird er wieder abgeholt. Da hat der Schein aber eine schon fast unglaubliche Reise hinter sich.

Vielleicht wollte der Autor ja nicht, dass der Verlag seinen Erzähltrick enthüllt. Leser sollten selbst drauf kommen. Aber man hätte in einem Klappentext - so ihn Wondratschek erlaubt hätte - auch gar nichts von der Banknote zu sagen brauchen.

Statt dessen lohnt die Frage, wie sich wohl die Strada S. Lucia in Valetta auf Malta mit der Beethoven-Statue in Neapel und der freundlich fülligen Istvánka Báthory-Bernstein verbinden lässt, um nur die drei Abbildungen im Buch zu nennen. Aber das ist nur ein winziger Teil jenes Kunststückleins, an dem uns der Autor teilhaben lässt. Es genießen lässt, wenn wir uns ihm hinzugeben bereit sind und nicht störrisch immer wieder von ihm wissen wollen, welche Geschichte er uns denn erzählt.

Er erzählt nämlich nicht eine, sondern viele Geschichten. Kaum zu zählen, wie viele Gestalten - Agierende wie Erinnerte - er mit dem Hundert-Euro-Schein auf seine Romanbühne holt. Jedem einzelnen schenkt er einen mitfühlenden Blick.

Was für ein Menschenreigen! Ein Mechaniker trifft einen Gastwirt und seinen nichtsnutzigen Sohn, der geht zu einer Prostituierten, die zu ihrer Friseuse. Ein Boxer tritt auf, dem es nicht gelingt, «mit dem Knie» zu denken, ein Friseur, der gleichzeitig Kunstsammler ist und in Leningrad die Geigerin Olga traf. Die will nach Israel ausreisen und wird dazu von einem Beamten verhört. Und zur Krönung gibt es dann noch fast 120 Seiten, die in einem Tabakladen handeln, wo ein Ladenmädchen des Friseurs wartet und wartet, dass es den Geldschein loswerden kann. Aber die Männer im Laden wollen sich nicht aus ihrem spannenden Gespräch reißen lassen - nicht nur über das Rauchen oder das Nichtrauchen (womit keine guten Texte zustande zu bringen seien - der Autor scheint selbst Raucher zu sein), auch über Filme und darüber, was in einem Schlafwagen so alles passieren kann, wie es in einem asiatischen Sonnenstudio zugeht und überhaupt über Frauen, worin sie zauberhaft und worin sie für Männer auch belastend sind. Die Heilung einer Migräne wird angekündigt und dann auch tatsächlich genauestens beschrieben.

Lektüre, die wie ein Spaziergang zelebriert werden will. Der Weg selbst ist das Ziel. Der Sinn kommt aus vielen kleinen Bildern. Sei achtsam, damit du sie wahrnehmen kannst. «Er hat nie in Augen geschaut, die neugierig auf ihn waren, stolz auf ihn, voller Vertrauen ... Sag ihnen, wer sie sind, was sie können, was Freude ist ... Es gibt Musik, ... die wie eine nur durch Schneeflocken beschienene Dunkelheit klingt ... Wir leben, sagte er, in einem Raum zwischen der Todeszone und der Banalität. Ist es der Tanz, der uns rettet, oder die Unbeweglichkeit?... er sah das Utopia einer sich selbst überlassenen Welt ... Lieben Sie die, die Sie gesund macht ...»

«Das Atmen und das Lachen. Wir laufen in zu engen Schuhen.» Diese zwei Sätze hat Verleger Jochen Jung dann doch auf die Rückseite des Schutzumschlags drucken lassen. Und vorn drauf eine Seifenblase. Oder ist es ein Tautropfen, der eine ganze Welt umschließen kann?

Wolf Wondratschek: Mittwoch. Roman. Jung und Jung. 243 S., geb., 22 €.

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