Unsere Beste

Wolfgang Storz über die demokratische Legitimation der »Großen Koalition«, Merkel als Urbild der Mütterlichkeit und die Frage, was uns die Psychoanalyse über die aktuelle Politik sagen kann

  • Wolfgang Storz
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit höchster Energie gehen die beiden größten Parteien - sie Volksparteien zu nennen, erfüllte den Tatbestand der Irreführung - bei ihren Koalitionsverhandlungen in den Themen Mindestlohn, Pkw-Maut und Mütterrente auf. Als gehe es mit diesen politischen Peanuts um das Ganze.

Ums Ganze ginge es, wenn sich diese künftige Regierung die Frage nach ihrer demokratischen Legitimität stellte - faktisch wurde sie als »Große Koalition« von gerade mal knapp 48 Prozent der Bevölkerung gewählt. Und sich fragte, wie sie halbwegs ordentliche demokratische Verhältnisse wiederherstellen will. Der Überwachungswahn der unkontrollierbaren Geheimdienste »unserer befreundeten Demokratien« (wahrscheinlich auch der eigenen) paart sich beim Demokratiegeringschätzen mit dem Prinzip, dass Börsen, Ratingagenturen, Banken und Märkte der demokratischen Politik den Takt vorgeben.

Geheimdienste und Finanzmärkte wissen vieles, Parlamentarier wenig bis nichts, sachzwang-diktatorische Märkte setzen Parlamentariern selbstverständlich die Grenzen (nicht umgekehrt), und die Kanzlerin fügt sich, wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder, in diese Sachzwänge, krönt frech ihre Politik mit der Medaille der Alternativlosigkeit - und keiner lacht.

Nur zur Erinnerung: Das Lebenselixier der Demokratie besteht aus Alternativen, ohne diese ist Demokratie Fassade und demokratische Politik Verwaltung. Aber: Das alles gilt als normal. Der Wert Demokratie wird von Geheimdiensten und Märkten und denen, die sie gewähren lassen, kleingehäckselt. Wer auf diesem Wert beharrt, wird Querulant. So ist das Unvernünftige vernünftig, das Verrückte normal.

Und das Verrückte ist ansteckend: Die Kanzlerin, die von ihrer Politik behauptet, sie sei ohne Alternative, wird gerne gewählt und wer sie nicht wählt, der sagt wenigstens in einer der zahlreichen repräsentativen Umfragen, sie sei die Beste. Unsere Beste sieht unverändert das Heil der Wirtschaft in Wachstum, niedrigen Steuern, vielen Reichen und das Heil der Staaten im Sparen und Schrumpfen. Ausweislich zahlreicher Umfragen ist der Anteil der Bevölkerung, welcher der Meinung ist, genau das alles sei Mumpitz, genauso hoch wie derjenige, der Merkel toll findet. Die »gespaltene politische Persönlichkeit« als Massenerscheinung.

Also Zeit, den in der untersten Schublade vergessenen Besteckkasten herauszuholen.

Der renommierte Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser äußerte sich jüngst zu der Frage, warum Angela Merkel zu der prägenden politischen Figur werden konnte. Er sieht das in Kürze so: Gemessen an Wahlen und Umfragen verharre vermutlich etwa die Hälfte der Bevölkerung in einer emotionalen Regression. Es würden in fast kindlicher Weise Urbilder der Mütterlichkeit revitalisiert, auf der Suche nach Schutz und aufgrund der Sehnsucht nach Vertrauen.

Regressives Verhalten sei in der Politik immer vorhanden, so Moser. Obama habe beispielsweise mit seinem »Yes, we can«-Charisma regressive Hoffnungen geschürt. Die lange Regierungszeit von Berlusconi sei anders nicht zu erklären. Entscheidend seien Umfang und Tendenz der kindlichen Vereinfachungen der Welt.

Moser sieht zwei wesentliche Faktoren, die regressives Verhalten befördern: ausgeprägte Unübersichtlichkeit und Bedrohungsgefühle. In einer politischen Öffentlichkeit, in der das Programmatische wenig und Gefühle fast alles bedeuteten, werde Angela Merkel zur Mutter, die beruhige und sich um ihre 80 Millionen Kinder sorge. So stärkten die Verhältnisse in dieser Welt, in der zu viel Ängstigendes im Umlauf sei, die Position von Merkel.

Ihre Kritiker, die meinten, sie könnten sie mit dem Nachweis programmatischer und rational nachweisbarer Verfehlungen schwächen, irrten. Auch wenn die Nachweise sachlich stimmten, Mehrheiten blickten eben aus einer ganz anderen seelischen Perspektive auf Merkel.

Wir sollten also häufiger in die Analysen von Psychoanalytikern wie Tilmann Moser, Thomas Auchter, Hans-Jürgen Wirth und anderen schauen, um uns näher als bisher an die Antworten auf die Frage heranzurobben: Was geht hier momentan eigentlich ab?

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