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Auch neun Jahre danach ist es nicht vorbei

Kommunalpolitiker sorgten für eine Stelle, die NSU-Opfern aus der Kölner Keupstraße Hilfe anbietet

  • Anja Krüger 
und Ulrike Hummel, Köln
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Gesellschaft tut sich schwer mit der Aufarbeitung der Verbrechen des NSU. Doch es gibt sie. Am greifbarsten für die Opfer dort, wo sich Menschen in ihrer Nähe ihnen zuwenden. Wie in Köln-Mülheim.

Auch mehr als neun Jahre nach dem Anschlag in der Kölner Keupstraße, der dem rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeschrieben wird, leiden Opfer unter den Folgen. Spät, aber nicht vergebens hat die Stadt Köln in Zusammenarbeit mit der Diakonie und dem Landschaftsverband Rheinland im Juli dieses Jahres eine Anlaufstelle für sie eingerichtet. Hier finden Geschädigte Hilfe bei sozialen, rechtlichen oder psychischen Problemen. Die Initiative ist von den Linksfraktionen im Kölner Stadtrat und im Landschaftsverband Rheinland ausgegangen, einem der zwei Kommunalverbänden in Nordrhein-Westfalen. Sie sind dafür jetzt mit einem Preis »Kommune 2020« der Linkspartei ausgezeichnet worden, der in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben wurde.

Bei der Nagelbombenexplosion waren am 9. Juni 2004 mehr als 22 Menschen türkischer Herkunft zum Teil schwer verletzt worden. Sie und die Anrainer der Geschäftsstraße litten anschließend nicht nur unter den Folgen des Anschlags. »Die Explosion war ein Schock«, sagt Ali Demir, der damals sein Steuerberatungsbüro in unmittelbarer Nähe des Tatorts hatte. »Aber die Verdächtigungen und Verhöre durch die Polizei waren es auch.« Bei vielen hat das zu einer doppelten Traumatisierung geführt.

Die Geschädigten mussten lange mit den Folgen alleine klar kommen. Jetzt haben sie mit Martina Hille von der Diakonie Köln eine Ansprechpartnerin bei Problemen - von denen es noch genug gibt. »Das ist noch in keiner Weise abgeschlossen«, sagt die Sozialarbeiterin. Hilles Büro befindet sich nicht in der Keupstraße oder der näheren Umgebung, sondern auf der anderen Rheinseite, in den Räumen der Diakonie in der Kölner Südstadt. »Für die Personen, die mich bislang aufgesucht haben, wäre es seltsam gewesen, wenn mein Büro in der Keupstraße gewesen wäre«, sagt sie. »Mehrere haben mir erzählt, dass sie nach dem Anschlag nie wieder in der Straße gewesen sind.«

Sie hat die bekannten Opfer angeschrieben und versucht, über Öffentlichkeitsarbeit und Netzwerkarbeit vor Ort weitere Betroffene zu erreichen. Sich mit Flugblättern auf die Straße zu stellen, um auf ihr Angebot aufmerksam zu machen, fände sie »der Sensibilität des Themas nicht angemessen«. Hille arbeitet seit mehr als zehn Jahren in der Flüchtlingshilfe und hat viel Erfahrung mit traumatisierten Menschen. »Wenn es gewünscht wird, mache ich Hausbesuche.« Türkisch spricht sie nicht, aber bei Bedarf kann sie auf Übersetzer zurückgreifen.

Bislang haben sich sieben Personen an Hille gewandt. Sechs haben nie in der Keupstraße gewohnt. Ein Opfer ist nach der Empfehlung seines Therapeuten weggezogen. »Etliche zeigen Symptome einer Retraumatisierung«, sagt Hille. Dazu gehören extreme Schlafprobleme, Panikattacken, Depressionen, psychosomatische Störungen und Schmerzen.

Die Menschen, die sich an sie wenden, brauchen zum Beispiel einen Platz für eine Psychotherapie oder wünschen sich die Fortsetzung einer Behandlung, die von den Kostenträgern abgelehnt wurde. Hille hilft bei der Suche nach einem Platz, redet mit Verantwortlichen in Ämtern und bei Krankenkassen oder vermittelt Spezialisten. Unter ihren Klienten ist ein gelernter Handwerker. Er ist durch den Anschlag so schwer verletzt worden, dass er berufsunfähig ist. Doch die Arbeitsagentur will ihm keine Umschulung bewilligen. Auch hier sucht Hille eine Lösung.

Dass die Diakonie als Träger christlich ausgerichtet ist und potenzielle Klienten eine andere Religion haben, ist in ihren Augen kein Hindernis für eine Kontaktaufnahme. »Ich glaube, es ist wichtig, dass wir kein staatlicher Akteur sind«, sagt sie. Doch das Angebot stößt nicht nur auf Zustimmung. »Das bringt nichts«, sagt Ali Demir, der mittlerweile aus der Keupstraße weggezogen ist. Er glaubt, dass sich die Opfer längst selbst geholfen haben. Demir gehört im Münchner NSU-Prozess nicht zu den Nebenklägern. Für manche Anwohner in der Keupstraße ist der Prozess aber eine Möglichkeit, das Geschehene zu verarbeiten. Davon ist der Anwalt Mustafa Kaplan überzeugt. Er vertritt einen Juwelier, der Nebenkläger ist. Sein Mandant nimmt Martina Hilles Hilfe nicht in Anspruch. Kaplan glaubt aber, dass die Beratungsstelle für andere wichtig ist. »Das ist ein richtiges Angebot«, sagt er. Kaplan ist davon überzeugt, dass es immer noch Opfer des Anschlags gibt, die Hilfe brauchen.

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