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«Plötzlich waren alle weg»

Mongo Stojka, Überlebender der Roma-Vernichtung, setzte seinen Angehörigen in Wien ein Denkmal Österreich Von Andreas Tröscher, Wien

  • Lesedauer: 5 Min.

Über 200 Jahre war die Hellerwiese in Wien-Favoriten Rastplatz für Roma und Sinti. 1941 wurden sämtliche 220 Mitglieder eines Clans in den Konzentrationslagern ermordet. Mongo Stojka, einer von sechs Überlebenden, konnte seiner «Familie» nun ein Denkmal setzen.

Eigentlich geht er ja immer zu Fuß vom sechsten Wiener Gemeindebezirk «hinüber» auf die Hellerwiese, den heutigen Belgradplatz, im Herzen von Favoriten. Einmal pro Woche nimmt er die etwa fünf Kilometer lange Strecke in Angriff. Mindestens.

Der 1929 «irgendwo auf der Strecke von Wien nach Triest» geborene Mongo Stojka musiziert gern und viel - vor allem mit seinem Sohn Harry, einem international anerkannten Gitarristen. «Schaun s, meine neue CD», präsentiert er stolz aktuelle Gesangskünste. Hinter seiner dicken Brille verbergen sich aufmerksame, lebenslustige Augen, denen so schnell nichts entgeht. Auch die Kratzer auf dem kleinen Plexiglasschild im Belgradpark nicht, mit denen einige minderbemittelte Zeitgenossen die Inschrift «verzierten». «Das stört mich üicht», zwinkert er, schließlich sei die Gedenktafel nur ein Provisorium, «im Mai wird sie sowieso durch einen Stein ersetzt».

Nachdenklich wird Mongo Stojka lediglich, wenn er an damals denkt. «Damals» bedeutet für ihn Kindheit - unbeschwert, fröhlich, sorglos. Der zentrale Ort seiner Jugendjahre war die «Hellerwiese», über 200 Jahre lang Hauptrastplatz seines Stammes, der Lovara. «220 Menschen haben hier in ihren Pferdewagen gelebt», erinnert sich Stojka und beschreibt mit seiner Hand einen großen Bogen über heute dicht verbautes Stadtgebiet. Nur die riesige Zuckerlfabrik, der «Heller», steht noch. Längst zum Wohnhaus mutiert, ver sprüht das mächtige, etwas heruntergekommene Gebäude immer noch das Flair vergangener Tage.

«Die Leute von der Fabrik haben uns immer Süßigkeiten zugesteckt, das war für uns Kinder jedes Mal eine tolle Sache», lächelt Stojka. Ausländerfeindlichkeit und Ausgrenzung waren für ihn Fremdwörter. «Die Eltern meiner besten Freunde haben zwar schon gemeint: Was wollts denn mit dem Zigeuner? Aber die antworteten: Das ist kein Zigeuner, das ist unser Freund», so Stojka. Selbst Matthias Sindelar, der in den 30er Jahren zu den weitbesten Fußballern zählte und in der Nähe ein Cafehaus betrieb, kam hin und wieder auf ein «Kickerl» vorbei. «Na ja, nicht nur», schmunzelt Mongo Stojka, «bei uns gab es auch immer reichlich zu essen. Und geschmeckt dürfte es ihm auch haben.»

Am Ende der leicht abfallenden Heller wiese befindet sich heute noch eine Kir ehe, mit der Stojka ebenfalls ganz persönliche Erinnerungen verbindet. «In einem der Seitensäle spielten sie Kinofilme. Quax der Bruchpilot, mit dem Heinz Rühmann - das war mein erster Film.»

Auch einen «Stammeshäuptling» gab es bei den Lovara: «Meine Großmutter. Die war so etwas wie unsere Ärztin. Gegen alle Beschwerden hatte sie ein Mittel bei der Hand.» Die Vorurteile gegen Roma und Sinti empfand der junge Mongo schon damals als ungerechtfertigt. Gauner seien sie gewesen, meinte man, und ungepflegt noch dazu. «Dabei waren wir alle gut situierte Pferdehändler. Auf unserer Reiseroute, die bis nach Triest führte, machten wir auf diversen Märkten halt und lebten mitunter sehr gut davon.»

Doch mit einem Mal wurde aus den Vor urteilen blanker Hass - die Nazis mar schierten in Österreich ein, das Volk jubelte über Führer und Ostmark, und plötzlich hatte niemand etwas dagegen, dass um den Rastplatz ein Stacheldrahtzaun gewickelt wurde. «Ich habe geglaubt, das wäre zu unserem eigenen Schutz», schüttelt Stojka heute den Kopf über seine kindliche Naivität. Weniger naiv war sein Vater, der schon ahnte, was auf seine Familie zukommen würde. «Er hat uns nach Ottakring gebracht, wo wir uns in einem Hinterhof versteckt hielten.» Eines Tages, im Jahr 1941, wollte er seiner «Familie», wie er die etwa 220 Lovara nennt, die auf der Hellerwiese campierten, einen seiner regelmäßigen Besuche abstatten. Was ihn dort jedoch er wartete, sollte seine Kindheit mit einem Schlag beenden: «Es war furchtbar. Niemand war mehr da, nicht einmal die Wagen», merkt man dem 71-jährigen noch heute die Emotionen an. Die Gestapo machte auch vor den Lovara auf der Hellerwiese nicht halt. Bis auf seine Eltern und seine Geschwister hatte Mongo Stojka von einem Tag auf den anderen alle Angehörige verloren - auch seine Großmutter, die Stammesführerin wurde ins Konzentrationslager deportiert. «Es hat mit Sicherheit niemand überlebt, denn ich habe nie wieder etwas von meinen Leuten gehört», starrt Stojka auf den verschneiten Park, wo anno 2000 Mütter ihre Kinder beim Spielen beaufsichtigen und Jugendliche heimlich die ersten Zigaretten rauchen.

Doch auch Mongo Stojka entkam den Nazis nicht. 1943 wurde das Versteck in Ottakring entdeckt, bis auf einen Bruder und Schwester Cejka wurden alle ermor det. Mongo selbst überlebte Konzentrationslager und Todesmarsch. Warum gerade er davonkam, beschäftigt und belastet ihn bis zum heutigen Tag. Über ein halbes Jahrhundert lang wagte er nicht, sich diese Zeit bewusst ins Gedächtnis zu rufen. «Es war einfach unmöglich, ich habe mich nicht getraut», gibt er zu.

Dann jedoch hielt er es nicht mehr länger aus: «Ich hab mir gedacht: Wenn ich das Ganze nicht festhalte, gerät das alles in Vergessenheit.» Er begann zu schreiben - sein Buch «Papierene Kinder» er scheint in Kürze - und sich für die Errichtung einer Gedenktafel einzusetzen. «Wissen Sie, unsere jüdischen Leidensgenossen haben zu Recht sehr viele Mahnmale, wir Roma aber nicht», klagt Mongo Stojka. Darum war es für ihn eine Art Wieder gutmachung, als im vergangenen Herbst eine kleine Tafel enthüllt und dahinter eine rote Kastanie, der Lieblingsbaum der Lovara, gepflanzt wurde.

«Ich habe diesen Schmerz so lange in mir getragen, dass es mich fast zerrissen hätte. Diese Tafel und dieses Buch haben mir meinen inneren Frieden zurückgegeben», ist Stojka erleichtert. Jedes Mal, wenn er sich zu Fuß auf den Weg zur Hellerwiese, dem heutigen Belgradplatz, macht, begibt sich der 71 Jährige auf eine Zeitreise. Hie und da sieht er noch seine Spielkameraden von «damals» auf den Holztreppen der Pferdewagen sitzen. Dann flüstert er ihnen ganz leise zu: «Seht her, ich hab euch ja doch nicht vergessen.»

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