- Politik
- Erwachsene Kinder im Zwiespalt zwischen Last und Verantwortung
Wenn Eltern älter werden
Hildegard Stanges Sohn geht. Bis zum nächsten Mal
Foto: Sperlich‹
sich Johanna immer aufgehoben gefühlt, aber auch - wie die Mutter - eingeengt. «In ihrer lieben Art wollte Oma einen ir gendwie vereinnahmen. Wenn ich mich nachmittags mit Freunden traf, wurde sie traurig.»
Je weiter die Demenz der Mutter voranschreitet, desto mehr ist Monika Londner hin- und hergerissen - zwischen Überfor derung und Schuldgefühlen. Auch Johanna glaubt sie zu vernachlässigen. «Eines Tages schrie mich das Kind an und hielt mir vor, ich würde nur noch von morgens bis abends von Oma reden. Sie wolle nichts mehr von ihr hören. Da habe ich gemerkt: Du musst jetzt aufpassen, sonst geht dir die Beziehung zu deiner Tochter kaputt.»
Eines Nachts wurden Mutter und Tochter von Nachbarn angerufen. Sie fanden die alte Frau, hingestürzt in der Wohnung und nicht mehr ansprechbar. Die Tür war von innen verschlossen, die verwirrte Frau musste von der Feuerwehr gerettet und ins Krankenhaus eingeliefert werden. Hinter dem Rücken ihrer Mutter löste Monika Londner die Wohnung auf und suchte ein,Seniorenheim. Am Anfang wollte die kranke Frau zurück in ihre Wohnung. Inzwischen hat sie sich an das Leben im Heim gewöhnt. Eine Erleichterung für die Tochter und das Enkelkind. Dennoch sind die Begegnungen mit der alten Frau oft von Misstönen begleitet. Als Johanna ihr beim letzten Besuch versprach, am nächsten Tag wiederzukommen, antwor tete die Großmutter barsch: «Dann bin ich schon im Grab.» Das sind Momente, die Monika Londner verletzen. «Da kommt trotz der Demenz noch ein Stück Altersbosheit hinzu. Meine Tochter und ich sind dann immer sehr betroffen.» Auch Johanna tun die Worte der Großmutter weh. «Da wird mir bewusst, dass sie überhaupt nicht mehr so ist wie früher. Ich habe meine Oma sehr geliebt, und ich liebe sie immer noch. Aber sie ist eben ganz anders. Früher hat sie mich immer beschützt. Das ist jetzt völlig weg.» Monika Londner ver sucht mit einer veränderten inneren Haltung, sich dem Starrsinn und überzogenen Forderungen zu stellen. Nur in der Abgrenzung konnte sie wieder Nähe zu ihrer Mutter herstellen. «Es ist das Schick sal meiner Mutter, nicht mein Schicksal. Ich bin dafür verantwortlich, dass sie angemessene und würdige Lebensumstände hat.»
Auch Hildegard Stange lebt in einem Pflegeheim. An jedem Freitag nach der Arbeit packt der Sohn ihre kleine Handtasche und fährt sie besuchen. Reinhard Karl fragte sich häufig: Was bin ich meiner alten Mutter schuldig? Und fand noch keine Antwort. «Sie freut sich, wenn ich komme. Ich habe meist ein schlechtes Gewissen. Ich will ihr doch nicht das Gefühl geben, dass sie abgeschoben wird, sondern dass sie zur Familie gehört.» Reinhard Karl ist nicht der leibliche Sohn, sondern adoptiert. Manchmal hat er gedacht: «Was soll›s? Sie ist alt und gebrechlich. Was mit ihr wird, kann mir doch egal sein.» Aber so einfach kann er es sich nicht machen. «Sie hat mir ja über viele Jahre die Mutter ersetzt. Sie hat Wäsche gewaschen, Essen gekocht, und ich habe ein Zuhause gehabt.» Deshalb versucht auch Reinhard Karl, ihr jetzt das Gefühl von Geborgenheit zurückzugeben.
Hildegard Stange steht am Fenster, kämmt ihr weißes Haar. Sie genießt es, sich schön zu machen. Wenn sie den Sohn erwartet, ist sie aufgeregt und gespannt. «Man lauert, wenn er kommt. Es lebt sich schön, wenn man weiß, dass man noch jemanden hat. Er ist doch der Einzige, an den ich mich klammern kann. Ich habe sonst niemanden.»
Acht Jahre alt war Reinhard Karl, als sein alleinerziehender Vater Hildegard Stange heiratete. Reinhard Karl wird nachdenklich, erinnert sich an seine Kindheit. «Damals war unser Verhältnis distanziert. Es fehlte die Wärme, die innerliche Wärme. Das Zusammenleben hat funktioniert, aber die Beziehung zu meiner Stiefmutter war unterkühlt.» So karg das Miteinander, so karg waren auch die Verhältnisse, in denen der Junge aufwuchs. Die Stiefmutter hat sich nicht geschont auf dem Bauernhof in dem kleinen sächsischen Dittmannsdorf. Auch sie selbst erhielt kaum ein Streicheln. Als der Ehemann starb, musste sie Haus und Hof allein bewirtschaften. Behindert mit einer künstlichen Hüfte, gelang es ihr bald nicht mehr. «Es waren Kohlen reinzuholen, Gras war zu mähen, Schnee zu schieben. Im Winter fror die Wasserleitung ein. Es musste eingekauft, zur Sparkasse gefahren werden. Alles, was zum Leben dazugehört.» Die Belastung wurde für den Sohn immer größer. Sein eigenes Familienleben kam zu kurz. Auch die berufliche Anstellung war gefährdet. Am meisten quälte ihn die Ungeduld der Stiefmutter. «Wenn sie anrief, musste ich alles stehen und liegen lassen und zu ihr kommen. Anderenfalls beschwerte sie sich bei den Nachbarn im Dorf. Ich hatte Angst, dass das Bild aufkommen könnte: Sie war gut genug, ihn groß zu ziehen, jetzt kümmert er sich nicht mehr um sie. Das wäre auch mir als undankbar erschienen.»
Der Sohn gibt Hildegard Stange in ein Pflegeheim, als sie auf Grund eines Nierenversagens nicht mehr allein im Haus bleiben kann. Abgeschoben aber fühlt sich Hilde dort nicht. «Ich stehe schon um sechs Uhr auf. Gucke aus dem Fenster und denke, was haben wir für ein Wetter? In der Frühe habe ich meine Ruhe. Kann mich schön waschen und pflegen. Ich lese oder mache den Fernseher an. Man hat keine Sorgen hier, braucht sich um nichts zu kümmern.» In ihrem kleinen Zimmer fühlt sich Hilde wohl. Die kleine Anrichte, Porzellanfiguren und Bilder an den Wänden erinnern an gelebtes Leben. «Manchmal kann ich nicht einschlafen. Dann fällt mir so vieles ein von früher.» Und sie überlegt, wie es ohne Reinhard wäre. «Na, wie es vielen anderen auch geht. Die stehen ganz alleine da, haben gar niemanden. Es ist schon ein schönes Gefühl, wenn sich jemand noch sorgt und Angst um einen hat.»
Reinhard Karl muss ständig auf die Stiefmutter aufpassen. Auf ihre Gesundheit achtet sie selbst kaum. «Wenn ich sie in der kalten Jahreszeit besuche, will sie mit nach draußen gehen. Aber sie zieht nichts an.» Hilde schaut verschmitzt und entgegnet ihm: «Es stört mich nicht. Ich mache es sowieso, wie ich es will, wenn du wieder weg bist.» Durch das Älterwerden ist sie wie ein Kind geworden, fällt dem Sohn auf. «Und da muss ich ihr auch schon mal deutlich sagen: So geht das nicht.» Wie bei einem Kind ist auch ihre Freude riesengroß, wenn sie mit dem Sohn im Haus Fahrstuhl fährt. Eingehakt im Arm des Jungen lässt sie sich zum wiederholten Male die Bedienknöpfe erklären. Staunt und strahlt, wenn die Türen aufgehen. Dann führt sie Reinhard Karl durch die andren Etagen und Abteilungen im Pflegeheim, und die Mutter ist dankbar über das schon gewohnte Ritual. Reinhard Karl ist überzeugt, dass mit der Zunahme der Gebrechlichkeit auch das Verhältnis zwischen ihnen herzlicher geworden ist. Hildegard Stange schweigt. Ihre Gesichtszüge, gerade noch heiter, werden plötzlich ernst. «Stimmt», sagt sie nur und nickt. Für Reinhard Karl wird es Zeit, Abschied zu nehmen. «Das macht mich doch immer traurig. Weil ich ja gezwungen bin, arbeiten zu gehen. Auch Mitleid kommt in mir hoch. Sie ist jetzt hier, und ich lasse sie wieder für eine Woche allein., Und da gehen einem Gedanken durch den Kopf: Was passiert mit mir, wenn ich einmal ein alter Mensch bin? Werden meine Kinder dann für mich da sein?»
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.