Wie verlief die Hominiden-Evolution?
Internationales Forscherteam entdeckte bislang älteste Spur der Gattung Homo
Von Martin Koch
In Afrika stand die Wiege unserer Vor fahren. Dort entwickelten sich der aufrechte Gang, das vergleichsweise große Gehirn und die ersten Formen einer Werkzeugkultur. So weit sind sich die Paläoanthropologen heute einig. Anlass für Kontroversen bietet ihnen vielmehr eine andere Frage: Wie ist die Evolution der Hominiden - der Menschenartigen - auf dem afrikanischen Kontinent im Einzelnen verlaufen?
«Trotz aller Funde fossiler Menschenreste fehlen im Puzzle der Stammesgeschichte der Hominiden mehr als 99,99 Prozent der Teile, die unsere Herkunftsgeschichte vollständig belegen könnten», meint der Darmstädter Paläoanthropologe Friedemann Schrenk, der gemeinsam mit seinem US-Kollegen Timothy G. Bromage das so genannte Hominiden-Korridor-Projekt leitet. In dessen Rahmen er künden amerikanische, deutsche und afrikanische Wissenschaftler seit 1984 die Gegend um den südostafrikanischen Malawi-See - zu dem vorrangigen Zweck, neue fossile Überreste der Gattung Homo aufzuspüren. Denn, so Schrenk. «Der Ur sprung der Gattung Homo war und ist in der Paläoanthropologie eine der am heftigsten umstrittenen Fragen.»
Bis vor einigen Jahren galt der so genannte Homo habilis, der fähige Mensch, als frühester Angehöriger dieser Gattung. Dessen fossile Überreste hatte der britische Archäologe Jonathan Leakey erstmals 1960 in der ostafrikanischen 01- duvai-Schlucht ausgegraben - zusammen mit einfachen Steinwerkzeugen, die hauptsächlich der Nahrungsverarbeitung dienten. Rasch kamen die Forscher über ein, dass der Homo habilis vor etwa 2 Millionen Jahren in Ostafrika entstanden war, aufrecht ging und über ein größeres Gehirnvolumen verfügte als alle bekannten Arten der Vormenschengattung Australopithecus. Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihnen dagegen die Frage, ob der «fähige Mensch» auch die Fähigkeit zur sprachlichen Artikulation besaß - wenigstens ansatzweise. Der südafrikanische Anthropologe Phillip Tobias hält dies für durchaus möglich. Denn an den Innenseiten mehrerer Homo-habilis-Schädel zeichnen sich bereits jene zwei Gehirnregionen ab, die für die Sprache unabdingbar sind: das Wernicke- und das Broca- Zentrum. Wie dem auch sei, vom Streit um die kommunikativen Fähigkeiten des Homo habilis blieb dessen zentraler Platz in der unmittelbaren Vorfahrenreihe des modernen Menschen lange unberührt.
Erst die fossilen Funde vom Ostufer des Rudolfsees, des heutigen Turkana-Sees, gaben der Diskussion über die Ursprünge der Gattung Homo neue Impulse. Ein dort entdeckter Schädel wich so stark von den anatomischen Merkmalen des Homo habilis ab, dass der russische Paläontologe V P Alexejew es 1986 wagte, ihn einer neuen Art zuzuordnen, die er Homo rudolfensis taufte. Schrenk und Bromage folgten seinem Beispiel. Sie hatten 1991 nahe der malawischen Ortschaft Uraha einen 2,5 Millionen Jahre alten Unterkiefer entdeckt und diesen anschließend als fossilen Überrest des Homo rudolfensis beschrieben. Er wäre damit zugleich der bislang älteste Nachweis der Gattung Homo.
Mit einem Gehirnvolumen von ca. 750 ccm und einem menschenähnlichen Skelett scheint der Homo rudolfensis geradezu prädestiniert für einen Platz in der evolutionären Hauptlinie der Menschwerdung. Im Gegensatz zum Homo habilis, der ein Gehirnvolumen von ca. 610 ccm und einen affenähnlichen Skelettaufbau besaß. Grund genug für Schrenk und Bromage, ihn auf ein Nebengleis der Hominiden-Evolution abzuschieben (Spek trum der Wissenschaft, August 2000). Dabei nehmen sie sogar in Kauf, dass das Gebiss des Homo habilis menschenähnlicher war als das des Homo rudolfensis.
Gemeinsam mit einer robusten Australopithecus-Art, dem so genannten Paranthropus boisei, bevölkerte der Homo rudolfensis vor etwa 2,5 Millionen Jahren das Gebiet des Malawi-Rifts. Die große Trockenheit, die damals dort herrschte, ließ die pflanzliche Nahrung immer härter werden. Doch im Gegensatz zu den robusten Australopithecinen, deren Kauapparat sich daraufhin enorm verstärkte, schloss der Homo rudolfensis einen Teil seiner Nahrung außerhalb des Mundraums auf. Das heißt: Er zerkleinerte die extrem harten Pflanzenteile mit Werkzeugen, von deren Existenz er notgedrungen immer abhängiger wurde. Das sei bis heute ein charakteristisches Merkmal des Menschen geblieben, meinen Schrenk und Bromage.
Das flexible Verhalten des Homo rudolfensis ging einher mit einer weiteren Er rungenschaft der Hominiden-Evolution: der Entwicklung eines größeren und leistungsfähigeren Gehirns. Parallel dazu veränderte der älteste Urmensch seine Ernährungsgewohnheiten. Denn der Gebrauch von Werkzeugen versetzte ihn in die Lage, sich schrittweise von den Unwägbarkeiten des Pflanzenwachstums abzukoppeln und stattdessen das reichhaltige Angebot an fleischlichen Nahrungsquellen zu nutzen. Anfänglich ver wertete er die herumliegenden Kadaver, viel später erst ging er auf die Jagd.
Was aber geschah in der Zwischenzeit mit dem Homo habilis? Welche Rolle spielte er in diesem evolutionären Szenario? Auch darauf haben Schrenk und Bromage eine klare Antwort. Vor etwa 3 Millionen Jahren waren das südliche und östliche Afrika auf Grund des relativ war men Klimas durch eine bewaldete Zone miteinander verbunden, die Teile einer frühen Australopithecus-Art veranlasste, sich weiter südwärts auszubreiten. Auf dem Weg dorthin mutierten sie zum Australopithecus africanus. Als es dann vor ca. 2,8 Millionen Jahren wieder kühler wurde, und die subtropischen Waldgebiete schrumpften, zog eine Teilpopulation des Australopithecus africanus zurück ins östliche Afrika und entwickelte sich dort zum Homo habilis, der zugleich den Endpunkt dieses evolutionären Zweiges markiert haben dürfte. Unweit davon entfernt war eine halbe Million Jahre früher aus einer ostafrikanischen Australopithecus-Art der Homo rudolfensis her vorgegangen. Daraus wiederum entwickelte sich vor etwa 1,8 Millionen Jahren der so genannte Homo ergaster, eine frühe afrikanische Variante des Homo erectus. Letzterer zählt nach Meinung zahlreicher Anthropologen zu den evolutionären Vorläufern des modernen Homo sapiens. So ungefähr könnte die Entwicklung der Hominiden in groben Zügen verlaufen sein. Muss sie aber nicht. Zahlreiche Wissenschaftler bezweifeln das Evolutionsmodell von Schrenk und Bromage und die daraus abgeleiteten Ursprünge der Gattung Homo. Erst 1999 wurde mit dem Australopithecus garhi eine 2,5 Millionen Jahre alte Vormenschenart entdeckt, deren Vertreter nach gegebener Faktenlage bereits einfache Werkzeuge benutzt haben könnten. Wenn das stimmt, und der damalige Umweltdruck spricht nicht unbedingt dagegen, müssen die Anthropologen das Homo-Merkmal Werkzeuggebrauch neu überdenken. «Dann ist ein Abgrenzen der Urmenschen von den Vormenschen nach diesem kulturellen Merkmal nicht zu halten», bekennen auch Schrenk und Bromage, die jedoch den klaren Beweis für die Existenz einer Australopithecus-Werkzeugkultur noch immer vermissen.
Ergänzende Literatur zum Thema: Robert Foley: Menschen vor Homo sapiens. Wie und warum unsere Art sich durchsetzte. Jan Thorbecke Verlag, Stuttgart 2000. 168 S., geb., 49.80 DM Spektrum der Wissenschaft Dossier 3/ 2000 «Die Evolution des Menschen. 90 S., brosch., 16,80 DM
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