- Politik
- ? Der ganz gewöhnliche Antisemitismus - in Hessen und anderswo
»Mädchen, lass die Finger davon«
Von Peter Nowak
Der Jahrestag der Reichspogromnacht war immer wieder für Sonntagsreden gut. Dieses Jahr aber konnte sich kein Politiker wagen, noch zu behaupten, dass Antisemitismus hierzulande allenfalls bei einigen Unverbesserlichen anzutreffen und die deutsche Gesellschaft generell höchst zivilisiert ist. Das kürzlich erschienene Buch der Fuldaer Lehrerin und Historikerin Anja Listmann bestätigt, dass noch längst nicht alles zum Besten in diesem Land bestellt ist. Die reich bebilderte Dokumentation ihrer mehrjährigen Forschungsarbeit gibt Einblick in den ganz gewöhnlichen Antisemitismus in der konservativen hessischen Provinz in Vergangenheit und Gegenwart.
Eigentlich wollte Listmann »nur« aufzeigen, wie sich das Leben für die jüdischen Menschen in Bad Salzschlirf mit den Machtantritt der Nazis veränderte. Die zunehmende Entrechtung der jüdischen Menschen wird an exemplarischen Fällen dargestellt. Immer wieder kommt die Autorin zu dem niederschmetternden Befund, dass die Mehrheit der Bevölkerung aktiv mitgemacht hat. Als der jüdische Prominentenfotograf Mischa Weinlaub unter Schlägen von SA-Leuten durch den Ort getrieben wurde, um dem Hals ein Schild mit der Aufschrift »Ich habe einen deutschen Jungen geschlagen«, standen viele Einwohner johlend am Straßenrand. Als ein anderer jüdischer Mitbürger von SA-Leuten im Gemeindehaus eingesperrt wurde, skandierten Schulkinder »Holt ihn raus, den Juden Strauß«. Obwohl die Dokumentation 1949 endet, ist es ein sehr aktuelles Buch geworden. Antisemitische Äußerungen einer älteren Frau aus Bad Salzschlirf waren Anstoß für die langjährige Recherche der Autorin. »Der Schock darüber, dass >normale< Menschen, Deutsche, nach den Erfahrungen des millionenfachen Mordes während des Holocaust sich derart pauschalisierend über Juden äußern können, führte zu der Frage, ob es jüdisches Leben in Bad Salzschlirf gab oder noch gibt«, erklärt Anja Listmann in der Einleitung. Während die über Anzeigen in der weltweit gelesenen jüdischen Wochenzeitung »Aufbau« gefundenen Verwandten der vertriebenen oder ermordeten Salzschlirfer Juden Anja Listmann unterstützten, versuchten Behörden und Teile der Salzschlirfer Bevölkerung die Arbeit der engagierten Historikerin zu behindern. Mit Verweis auf den Datenschutz verweigerten die Behörden Anja Listmann die Einsichtnahme in dringend benötigte Urkunden und Dokumente. Deutsche Zeitzeugen wiesen vehement jede Mitarbeit an dem Projekt ab. Sogar Drohungen machten bald die Runde. »Mädchen lass die Finger davon, das bringt nur Ärger«, hieß es. Ein Beamter gab Listmann den Ratschlag, doch lieber über Salzschlirfer Trachten zu schreiben. Die wenigen Salzschlirfer, die zu Gesprächen bereit waren, verabredeten konspirative Treffen nach Einbruch der Dunkelheit. Aber selbst sie teilten meist nicht das Anliegen der Autorin. »Die große Mehr heit der 20 Befragten interessierte sich nicht für das Schicksal der Juden, sondern war nur um die Rechtfertigung des eigenen Handelns bemüht«, lautet Listmanns ernüchterndes Resümee. So wurde das Buch entgegen der ursprünglichen Intention der Autorin auch zu einem Dokument des ganz gewöhnlichen Antisemitismus heute in der osthessischen Provinz - und anderswo.
Ein Zeitzeugnis besonderer Art bietet Piper: Beiträge von Hannah Arendt für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau« 1941 bis 1945: »Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher« (244 S., 39,80 DM).
Kurz nach der Befreiung aus KZ und Vernichtungslager, Rückkehr aus Exil und Versteck gab es ein verständliches Rachegefühl bei einigen Holocaust-Über lebenden. Jim G. Tobias und Peter Zinke suchten ehemalige »Rächer« in Israel auf: »Nakam. Jüdische Rache an NS-Tätern« (Konkret, 173 S., 30 DM).
Ein Tabu bricht das Buch von Robert L. Hilliard »Von den Befreiern vergessen«. Er schildert den fragwürdigen Umgang einiger US-Organe mit den »displaced persons«, den Überlebenden der Todeslager (Campus, 240 S., 38,80 DM). Unglaubliche Geschichten hat Helen Holzman, einst als »halbjüdisch« eingestuft, aus der NS-Zeit zu erzählen: »Dieses Kind soll leben« (Schöffking & Co., 382 S., 44 DM).
Anja Listmann: Beinahe vergessen. Jüdisches Leben in Bad Salzschlirf. Rhön-Ver lag. Hünfeld 2000. 180 S.. geb.. 28 DM.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!
In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!