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  • Politik
  • Gonzalo Galguera choreographiert in Dessau

Jahreszeiten als getanzter Lebenskreis

  • Kilian Klenze
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn sich diese Spielzeit neigt, dann kann Gonzalo Galguera für sich eine ausgesprochen positive Bilanz ziehen. In seinen erst zwei Jahren als Ballettdirektor und Chefchoreograph am Anhaltischen Theater Dessau hat er sechs abendfüllende Produktionen vorgestellt, die meisten Uraufführungen für seine von 18 auf 22 Mitglieder erweiterte Compagnie - eine immense Zahl an Premi,eren für einen so kurzen Zeitraum.

Die Spannweite der verhandelten Themen reicht von einer bildkräftigen Goya- Reflexifm und einer eigenständigen Car men-Version über die h-Moll-Messe von Bach, zu dem er eine besondere Affinität fühlt, bis zum ständig ausverkauften »Nussknacker« in ungewöhnlicher Lesart, seinem bislang größten Publikumserfolg. So vielseitig die eingesetzten Musiken als künstlerischer Partner und Inspirationsquell sind, so vielfältig sprudelte dem jungen kubanischen Choreographen mit der internationalen Vergangenheit auch die Bewegungssprache. Sie brachte mit einer Handschrift aus Ernsthaftigkeit und Humor die mannigfachen Erzählweisen an den Zuschauer, verriet gestaltende Neugier, Atem, unkonventionelle Herangehensweise und Gefühl für Form. Sein Talent ist ein Versprechen auf die Zukunft. Als jüngstes Beispiel dafür steht ein zweiteiliger Ballettabend, der Vivaldis »Vier Jahreszeiten« mit Obietas »Suenos de Tango« kombiniert.

Immerhin 70 durchgehende Minuten währen jene »Tangoträume«, und das ist gleichsam ihr Fluch. Vor knapp zwei Jahren hat Galguera sie als Gastchoreograph fürs Sankt Gallener Ballett entworfen und übertrug sie nun seiner Compagnie. Was Francisco Obieta, in Sankt Gallen lebender argentinischer Kontrabassist, als Komposition beisteuerte, mag die Atmosphäre des Tangos treffen und auch gut anzuhören sein - genügend Spannungspunkte für eine tänzerische Umsetzung bietet es nur bedingt. Galguera und sein Ausstatter Jens Hübner lassen die sieben Episoden in einer Art Tangocafe spielen, leeren dazu die ohnehin riesige Dessauer Bühne von aller Verkleidung, öffnen sie nach hinten bis zur Brandmauer und gliedern sie lediglich durch einen erst spät genutzten Diagonalsteg. Lange bewegen sich die einzelnen Paare wie aufflackernde Feuer, ohne dass Choreographie und Interpretation den gewaltigen Raum wirklich zu füllen vermöchten. Galguera arbeitet personell mit unterschiedlichen Konstellationen, von der Paarreihe bis zum Solistentrio, und greift typische Tangosujets auf: die Frau unter Männern, reine Frauenpaare, den legendären Männertango mit Beimischung unerfüllter Liebe, den trunkenen Randalierer. Und auch Stimmungen wie Arroganz, Lässigkeit, Aggression, Begehren und Verlassensein tauchen auf.

Bisweilen verharrt die Choreographie zu sehr am Platz, ermüden das durchgängige Schummerlicht und die dunklen Kostüme. Höhepunkt ist ein Duett zwischen Emma-Jane Morton und Michael Ihnow, voller Körperverschränkungen am Boden und Verhakelungen der Beine, klar im Gefühl und seiner choreographischen Formulierung und Ausdruck zweier star ker Tänzerpersönlichkeiten. Als Traumvision endet eine Choreographie, die sich mehr in Widerstand und Reibung zur Musik hätte begeben sollen.

Wie sehr Galgueras choreographisches Vermögen seit der Uraufführung der »Suenos« gewachsen ist, zeigten »Die vier Jahreszeiten« nach Vivaldis Konzertzyklus als Eröffnungspremiere des Abends. Dessaus Ballettchef legt sie jungen Leuten von heute unprätentiös in die Körper und lässt ein Kind den Lebenskreis rahmen. Ein weißer Steg hinter einer Tür als einzige Dekoration entführt jeweils die Protagonisten der besinnlichen jahreszeitlichen Spiele. Ist es im »Frühling« ein junges Paar, in dessen verliebtes Turteln und Turnen immer wieder sechs Mädchen einbrechen, so flirten beim »Sommer«-lichen Strandgang umgekehrt sechs Bur sehen mit einer coolen Braut, deren Baseballcape zum begehrten Souvenir wird.

Artistische Virtuosität hilft hier Gefühlsornamente von Flachsigkeit bis Sehnsucht kolorieren. Zentrum des »Herbst«-Teils und zugleich Filetstück des Zyklus ist ein Duett von Katie Wood und Alexander Korn. Was für die Frau selbstverliebt, für den Mann als Balzritual beginnt, steigert sich zu einem emotionalen Taumel zwischen Verlorensein und Streit aus Gefühlsübermaß. Dem Mann bleibt letztlich nur die Erinnerung an eine unvergessliche Begegnung. Im abschließenden »Winter« sind es personifizierte schwarze Todesahnungen, die einen Mann in Weiß beschleichen und in die Ungewissheit des Steges schicken. Die Zukunft gehört, in Gestalt jenes Kindes, dennoch dem Leben.

Wie viele Schattierungen und Nuancen Galguera dem Thema ablauscht, wie sicher er mit Raum und Einzelbewegung hantiert, welchen Bogen er zu schlagen versteht, beeindruckt ebenso wie die hingebungsvolle Tänzermannschaft in ihren körperknappen, enthüllungsfreudigen Kostümen.

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