Tauende Böden und bröckelnde Küsten

Wachsende Erosion sibirischer Küsten: Kontroverse über die Geschwindigkeit der Freisetzung von Treibhausgasen bei einer Fachtagung in Kiel

  • Ingrid Wenzl
  • Lesedauer: 4 Min.

Kontrovers ging es manchmal zu in den Fachdebatten auf dem Abschlusssymposium des PERGAMON-Projektes (ein europäisches Langzeitbeobachtungsprogramm zur Methanfreisetzung aus arktischen Permafrostböden und Gashydraten) letzte Woche in Kiel. Vier Jahre haben Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen aus Europa, Nordamerika und Russland gemeinsam die Permafrostgebiete erforscht. Doch jetzt, wo das mit EU-Mitteln geförderte Projekt zu Ende ist, geht es eigentlich erst richtig los, denn - so die Quintessenz des Symposiums - auch die Wissenschaftler wissen über den Zustand und die Bedeutung dieser Ökosysteme noch immer viel zu wenig. Sowohl in der ehemaligen Sowjetunion als auch in Nordamerika fehlt es seit Jahren an Monitoring, und die arktischen Permafrostgebiete sind so groß, dass sich bisherige Messungen nur wie Stichproben ausnehmen, wie der Projektleiter Jens Greinert anmerkte. Zahlreiche Nachfolgeprojekte sind deshalb geplant.

Uneinig sind sich die Wissenschaftler vor allem darüber, wieviel von dem in den Dauerfrostböden gespeicherten Treibhausgas Methan durch die aktuelle Erderwärmung freigesetzt wird. Denn obwohl diese im globalen Mittel eine Pause zu machen scheint, steigen in den Polargebieten die Temperaturen weiter. Infolgedessen schmilzt das polare Meereis und die Böden tauen. »Interessant war etwa die Diskrepanz zwischen den Daten, die am Boden und denen, die in der Atmosphäre erhoben wurden«, sagt Paul Overduin, Permafrostforscher an der Außenstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts für Polarforschung (AWI). Die Kontroversen sieht er als Indiz dafür, dass die Datengrundlage noch nicht ausreichend sei. Einig war man sich jedoch, dass im Vergleich zu anderen natürlichen und anthropogenen Quellen - wie der Verbrennung fossiler Brennstoffe oder der massiven Rinderhaltung - der Methaneintrag aus der Arktis heute noch relativ gering ist.

Doch sieht Overduin darin keinen Grund zur Entwarnung. Gemeinsam mit seinem AWI-Kollegen Frank Günther sowie Forschern aus Russland und Nordamerika hatte er kürzlich zwei Langzeitstudien in den Fachjournalen »Biosciences« und »The Cryosphere« veröffentlicht. Darin weisen die Forscher nach, dass die Steilküsten Ostsibiriens immer schneller zerfallen. In den letzten Jahren habe sich das Tempo der Erosion sogar fast verdoppelt.

Die Küste an der Laptew-See und der Ostsibirischen See besteht bis zu 80 Prozent aus Eis, der Rest ist gefrorenes Lockermaterial: feiner Sand und Torf. Temperaturen von bis zu minus 12 Grad im Untergrund lassen diese Bestandteile hart werden wie Fels. Doch immer mehr Sommertage mit Temperaturen über Null lassen die oberen Schichten tauen, Wellen unterspülen den Sockel, und die Küste fällt buchstäblich in sich zusammen. Früher schützte sie und den tiefgefrorenen Untergrund fast rund um das Jahr eine dicke Meereisdecke. Doch auch das Meereis schwindet: »In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es in dieser Region im Durchschnitt weniger als 80 eisfreie Tage pro Jahr«, erläutert Overduin. »Aber in den vergangenen drei Jahren zählten wir durchschnittlich 96 eisfreie Tage. Die Wellen haben also rund zwei Wochen mehr im Jahr Zeit, an den Permafrostküsten zu nagen.« Der Wissenschaftler möchte jedoch keine voreiligen Schlüsse ziehen, denn es könne sich bei den Messergebnissen der letzten drei Jahre auch um sogenannte »Ausreißer« handeln.

Für ihre Studien werteten Günther, Overduin und ihr Team hochauflösende Luft- und Satellitenbilder der Küste von 1951 bis 2012 und Messungen der letzten vier Jahre aus. Auch untersuchten sie vier Küstenabschnitte entlang der Laptew-See und auf der Insel Muostach im Lena-Delta. Dieser Insel sagen die Forscher eine schwarze Zukunft voraus: »In weniger als 100 Jahren wird sie in mehrere Teile zerbrechen und dann schnell verschwinden« prophezeit Günther. An ihrer Nordspitze schwankt die Erosion zwischen 10 und 20 Metern pro Jahr. In den vergangenen 60 Jahren hat die Insel schon knapp ein Viertel ihrer Fläche verloren. »Wenn man bedenkt, dass es Zehntausende von Jahren gedauert hat, bis sie durch Sedimentablagerungen entstanden ist, dann geht ihr Zerfall rasant vonstatten«, so Overduin.

Das Abbrechen der Steilküsten Ostsibiriens ist auch über die Landesgrenzen hinaus von Bedeutung: Je nach Erosionstyp und Küstenstruktur gelangen nach Daten der beiden Studien in Ostsibirien jährlich 88 bis 800 Tonnen des bislang im Permafrost eingeschlossenen organischen Materials ins Meer. Bei dem so freigesetzten Kohlenstoff handelt es sich laut Günther um Überreste von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen eines anderen Erdzeitalters, der nun in den gegenwärtigen Kohlenstoffzyklus aufgenommen wird. Vom Ozean absorbiert, trägt er zu dessen Versauerung bei.

Laut Günther handelt es sich bei dem Schwund der Permafrostküsten um ein »arktisweites Phänomen«: »Kollegen in Nordamerika haben in Alaska beobachtet, dass auch dort die Küsten doppelt so schnell erodieren wie im Mittel«, erzählt er. Dabei seien diese durchschnittlich nur vier Meter hoch - in Ostsibirien mäßen sie eine Höhe von 20 bis 30 Metern. »Damit wird in Alaska deutlich weniger Volumen bewegt.« Auch liegt mit drei Prozent der Kohlenstoffanteil der ostsibirischen Küste besonders hoch.

Nach Einschätzung des Bundesumweltministeriums wird der Zustand und die Bedeutung der Permafrostgebiete auf dem derzeitigen UN-Klimagipfel in Warschau nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ihr Auftauen wird nur als eine von vielen Klimafolgen behandelt.

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