• Kultur
  • Bücher zum Verschenken

Die Leiche zweier Väter

Der Neuseeländer Carl Nixon beschreibt den verzweifelten Kampf zweier Väter um ihren toten Sohn

Ganz ordentlich hat Mark seine Sachen zusammengepackt, sogar den Ledergürtel eingerollt und auf die Jeans gelegt. Dann steigt er auf einen Zaunpfahl und erhängt sich. Das dramatische Ende eines Lebens ist gleichzeitig Auftakt einer gewaltigen Geschichte um Identität und Heimat. Denn nun nimmt das Unheil seinen Lauf.

Warum der 19-jährige Mark sich das Leben nahm, spielt 344 Seiten lang keine Rolle, im Zentrum steht der bedingungslose Kampf zweier Männer um die Leiche ihres Kindes. Mark ist Sohn eines Māori, aufgewachsen ist er aber bei seinem Stiefvater, Box Saxton, Inbegriff des weißen, hart arbeitenden Neuseeländers.

Als Tipene, Marks leiblicher Vater, den Toten aus der Leichenhalle schafft, um ihn, was in Neuseeland sein gutes Recht ist, zu den Ahnen in seiner Heimat Kaikoura zu bringen, beginnt ein irrationaler Roadtrip. Box, von tiefer Trauer um seinen Sohn nur noch auf das nackte Gerüst menschlicher Empfindungen reduziert, will den Leichnam seines Sohnes zurückholen, koste es, was es wolle. Die Erzählung beschreibt sein verzweifeltes Verlangen mit einer existenzialistischen Brachialität, die kaum Spielraum für Perspektivwechsel lässt. Box schlägt eine Schneise der väterlichen Verwüstung in die Welt der Māori, die ihrerseits mit dem entwendeten Leichnam Tatsachen geschaffen haben.

Am Zerren um den toten Mark wird deutlich, welche unüberwindbaren Gräben sich zwischen Māori und Pākehā, den europäischen weißen Siedlern, auch heute noch in Neuseeland auftun. Doch Nixon dreht das Erwartbare um: Tipene ist ein erfolgreicher Geschäftsmann mit einem großen Haus und lebt davon, Touristen auf Delfintouren mitzunehmen. Box hingegen ist zu einer kümmerlichen Existenz in einem Viertel voller Sozialwohnungen und Autowracks im Vorgarten verdonnert, seit ihm die Immobilienkrise Häuser und die Privatschulen seiner Kinder nahm.

Box ist kein wirtschaftlich abgehängter Rassist, sondern ein blindwütig liebender Vater, das wird schnell klar, erst recht als ihn ein Imbissbudenbesitzer für einen Helden hält, der es den Māori mal so richtig zeigt. Er verteidigt seinen Sohn und gibt zu, dass der schließlich selbst zur Hälfte Māori sei. Dennoch macht »Settlers Creek« deutlich, dass es so gut wie keine Berührungspunkte der beiden Kulturen auf dieser winzigen Insel gibt, die über das pragmatische Miteinander hinausgehen.

Für Jahrhunderte lebten die Māori allein auf der Insel im südlichen Pazifik. Dann kamen die Briten und brachten vermeintliche Zivilisation - und mit ihr Krankheiten wie Masern und Grippe, an denen die Māori zu Tausenden starben. Inzwischen sind Generationen nachgewachsen, die eine symbiotische Verbindung zum Land, seinem Boden und der Natur aufgebaut haben und die Deutungshoheit jeweils für sich beanspruchen. Der Kampf um die Leiche ist auch ein Ringen um die Bedeutung von spiritueller oder physischer Heimat. - Am Ende seiner Odyssee sieht Box Saxton aus wie eine Karikatur von sich selbst. Das erste Mal stellt er das alles infrage.

Carl Nixon:
Settlers Creek. Roman. Aus dem Englischen von Stefan Weidle. Weidle Verlag. 344 S., geb., 23 €

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal