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Der rote Bruder

Helmut Böhm verfasste eine opulente deutsche Familienchronik

  • Rosi Blaschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Dieses Buch ist Lebensbeichte, Familienchronik und gesellschaftliches Panorama in einem. Leser, die der Generation des Autors angehören, wie er in drei deutschen Gesellschaftssystemen gelebt haben, werden sagen: Ja, so war›s. Aber gewiss mitunter auch: Nein. Weil sie manches oder vieles anders erlebt und erfahren haben oder anders beurteilen. Doch sollte es so nicht sein - bei einem Buch, das unsere Geschichte und Gegenwart nicht vergessen machen will?

Helmut Böhm alias Werner Währchen (der Autor verfremdet alle Namen) ist der älteste Sohn von Walter und Roselore Währchen, die aus sogenannten einfachen Verhältnissen stammend, dennoch eine solide Ausbildung absolvierten. Beide streben nach Höherem, beide »glauben an Adolf Hitlers Sendung«. Der Krieg öffnet Walter die Augen. Er bleibt nach britischer Kriegsgefangenschaft nicht im Westen, sondern geht in den Osten, in die sächsische Kleinstadt Hellerfels am Fuße des Erzgebirges, zieht ins Haus seiner Altvorderen, die sich als Leineweber das Geld dafür vom Munde abgespart hatten.

Walter Währchen engagiert sich für den neuen Staat, lernt um, wird Bauingenieur, arbeitet unermüdlich, wo er gebraucht wird. »Ein glühender Verfechter« der DDR wird er jedoch nie. »Fanatismus ist ihm fremd«, er bleibt ein »kritischer Geist«, der nimmermüde auch auf Bildung für sich und die Kinder aus ist. Dieser Mann ist die ehrlichste, beeindruckendste Figur der Familiengeschichte. Die DDR hat ihm seinen Aufbauwillen, sein Vertrauen nicht entgolten. Roselore Währchen wird fromm, ist immer für andere da. Ihre psychische Erkrankung belastet indes über Jahre die Familie.

Das Paar will viele Kinder und hat schließlich ihrer sieben: Werner (unser Autor) Winfried, Wenzel, Wiebke, Wilm, Wera, Waltrudis. Alle bis auf Wiebke erwarben das Abitur »und durften ungeachtet dessen, dass wir im Grunde arm wie die Kirchenmäuse waren, jeder ... das Fach seiner Wahl studieren«. So sehr die Eltern dafür Opfer brachten, der Autor vergisst zu erwähnen, dass das damals nur in einem Staat wie der DDR möglich war. Dieses Versäumnis stößt einen gerade in diesen Tagen bitter auf, da das nächste Bundesland Studiengebühren einführt und denen, die arm wie die Kirchmäuse sind, jede Chance nimmt.

Wenzel wird Facharzt für Allgemeinmedizin und praktiziert in seiner sächsischen Heimat. Er nimmt jede Funktion an, die man ihm anträgt - wird Kreishygienearzt, Vizekreisarzt, ist dann beim Roten Kreuz und verbreitet schließlich wissenschaftliche Erkenntnisse. Und er wird Mitglied der SED. »Distanz ihr gegenüber würde ihm, fürchtet er, ernstlich schaden.« Doch er will eigentlich raus aus der DDR, »aus dieser Zwangsjacke, die der Sozialismus für ihn geworden ist«. Er möchte sich frei entfalten. Und also haut er mit der Familie in den Westen ab. Andere Geschwister folgen ihm: der Diplomingenieur Winfried Währchen aus dem Eisenhüttenstädter Kombinat, die Fachzahnärzte Wera und Gangolf aus dem Sächsischen, der Reviersteiger Wilm aus der Wismut ... , die mit Ausreiseanträgen im Rahmen der Familienzusammenführung die Seiten wechseln.

Sie alle sind gegangen, weil sie in einem Staat leben wollten, in dem kein Mangel herrscht, man aus einem überwältigenden Angebot wählen kann, ein höherer Verdienst winkt und ungehinderte Reisen in die Welt möglich sind, man nicht das Gefühl haben muss, eingemauert zu sein. Sie haben sich nie im Untergrund oder in Organisationen gegen die DDR engagiert. Und auch insofern ist Helmut Böhms Bericht ein Spiegelbild der DDR, die von Millionen Bürgern verlassen wurde. Sehr viele waren Wirtschaftsflüchtlinge - und dieser Begriff soll hier durchaus nicht im negativen Sinn genutzt werden. Denn wer sagt, dass nicht jeder Mensch das Recht hat, dorthin ziehen zu können, wo er sich ein besseres Leben erhofft? Nebenbei bemerkt: Mutter Roselore schlug in einem Brief an die Behörden vor, dass die Familie das Medizinstudium ihres in den Westen entwichenen Sohnes Wenzel in der DDR auf Heller und Pfennig bezahlt. Welch sympathischer Gedanke. Innerhalb der Familie war diese Idee von ihr jedoch als »blanker Wahn« abgetan worden.

Helmut Böhm studierte 1956 bis 1961 Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Er hat sein ganzes berufliches Leben einer Zeitschrift gewidmet - der »Neuen Deutschen Bauernzeitung« (NDBZ), heute DBZ. Für die Familie ist er der »rote Bruder«. Er hat die Ein- und Übergriffe des SED-Politbüros in die Redaktionsarbeit und in die DDR-Agrarentwicklung erlebt und nach der Wende das Diktat westdeutscher Verlage und Vorgesetzter. Doch war und ist die Zeitschrift bis heute ein Ratgeber und Chronist der Bauern, der Agrarwissenschaft und des Landlebens. Und weil der Autor seine und seiner Kollegen Arbeit an der »Bauernzeitung«, ihre Entwicklung, ihre Umbrüche und Neuorientierung zum Thema vieler Kapitel machte, liegt hier auch ein pressegeschichtliches Kompendium vor.

Als Journalist hat Böhm sich vieler Formen bedient: Er nutzt Tagebuchnotizen von Familienmitgliedern, Stenogramme ihrer Aussagen, Briefe, eigene Aufzeichnungen, akribische Gesprächswiedergaben und fügt daraus einen Report zusammen (er hätte übrigens so gern einen Roman geschrieben). Der Währchen-Clan, der sich im vereinigten Deutschland nun alle zwei Jahre trifft, umfasst inzwischen 45 Personen. Der Leser, der sich nolens, volens (um ein sehr häufig genutztes Wort des Autors zu gebrauchen) durch die 2074 Seiten gelesen hat, weiß über den Werdegang jedes einzelnen und seiner Vorfahren, ihre Um- und Kreuzwege Bescheid und erhält konkreten Einblick in ein Jahrhundert deutscher Geschichte. Die drei Bände werden nicht in jedem Bücherregal stehen, aber sie gehören in zeitgeschichtliche Einrichtungen. Damit nichts vergessen wird.

Helmut Böhm:
Währchens Wege. Verlag am Park. Drei Bände. 2074 S., geb., 68 €

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