Hinweise auf noch mehr Morde durch Neonazis
Überprüfung zeigt in 746 Fällen Anhaltspunkte »für eine mögliche politische rechte Tatmotivation« / Polizeibehörden sollen noch einmal ermitteln
Berlin. Die Spur der Gewalt von Neonazis während der vergangenen 20 Jahre ist in Deutschland möglicherweise deutlich breiter als bekannt. Eine Überprüfung hunderter unaufgeklärter Verbrechen auf möglicherweise rechtsextreme Motive werde voraussichtlich im zweiten Quartal 2014 abgeschlossen, Ergebnisse lägen nächstes Jahr vor, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am Mittwoch in Berlin. »Im Moment sind das nur Anhaltspunkte.«
Nach einem Bericht der »Neuen Osnabrücker Zeitung« (Mittwoch) wurden zwischen 1990 und 2011 womöglich viel mehr schwere Verbrechen von Rechtsextremisten begangen als offiziell aufgeführt. Bei einer Überprüfung von 3300 Tötungen und Tötungsversuchen ohne Verdächtige hätten Bundeskriminalamt und Landespolizeibehörden in 746 Fällen aus dieser Zeit Anhaltspunkte »für eine mögliche politische rechte Tatmotivation« entdeckt, schrieb das Blatt unter Berufung auf einen Sprecher des Bundesinnenministeriums.
Die Überprüfung war nach Bekanntwerden der Mordserie der Neonazi-Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) in die Wege geleitet worden. Die bisherige Statistik der Bundesregierung nennt knapp 60 Morde mit rechtsextremem Hintergrund. An dieser Zahl war in den vergangenen Jahren immer wieder Kritik laut geworden.
Die Anhaltspunkte für rechtsextreme Tatmotive bedeuteten »noch nicht, dass es sich dabei tatsächlich um rechtsextrem motivierte Straftaten handelt«, die Prüfung dauere an, betonte der Ministeriumssprecher am Mittwoch. Zu möglichen Konsequenzen sagte er: »Warten wir doch erst mal ab, in wievielen Fällen sich das verifiziert.«
Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau (Linkspartei) sagte: »Recherchen von Journalisten und gesellschaftlichen Initiativen weisen bislang dreimal so viele Tötungsopfer rechtsextremer Gewalt auf, wie die offizielle Statistik einräumt. Diese bisherige Diskrepanz ist nicht hinnehmbar. Es geht um Klarheit und häufig auch um Förderansprüche für Angehörige und Hinterbliebene, die bislang verwehrt wurden.«
Die Vorsitzende der gegen Rechtsextremismus engagierten Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, erklärte: »Jahrelang wurde die Dimension rechter Gewalt durch die Sicherheitsbehörden verharmlost. Dass nach langem Drängen der Zivilgesellschaft nun endlich neue Kriterien zur Erfassung rassistisch motivierter Gewalt erarbeitet wurden, ist ein wichtiger Schritt, um die Realität abzubilden.« dpa/nd
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