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Schanghaien ist obsolet

Bundeswehr I: Werbung im Klassenzimmern und Jobcenter

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 3 Min.

Schanghaien bezeichnet in der Seemannsprache das gewaltsame Rekrutieren von Seeleuten für Kriegs- und Handelsschiffe. Diese Art der Freiheitsberaubung, auch Pressen genannt, wurde zeitweise auch für die »Heeresergänzung« (Wikipedia) angewandt. Im 18. und 19. Jahrhundert durchkämmten »Pressgangs« in britischen und nordamerikanischen Häfen Kneipen und Bordelle. Mittels Schnaps oder auch unter Anwendung körperlicher Gewalt schleppten sie Seeleute an Bord. In gleicher Weise füllten Potentaten und Regierungen ihre bewaffneten Streitkräfte auf. Mit Einführung der Wehrpflicht erledigten sich derartige Methoden zur Rekrutierung für den Heeresdienst; Soldaten wurden fortan behördlich einberufen. Soviel zur Geschichte.

Michael Schulze von Glaßer, Journalist und Autor des ebenfalls bei PapyRossa erschienenen Buches »An der Heimatfront. Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr«, analysiert die Methoden der »Presser« in einer Zeit, da die Wehrpflicht ausgesetzt und Nachwuchs gefragt ist - für die »Verteidigung abendländischer Freiheit« am Hindukusch oder in Mali.

Schanghaien ist obsolet. Der »Presser« durchkämmt heute nicht mehr Kneipen und Bordelle. Die Schulen, das Klassenzimmer, Sportvereine, die Feuerwehr, das Jobcenter und das technische Hilfswerk sind sein Jagdgebiet. Auch Messen und Stadtfeste werden planmäßig von mittlerweile 94 hauptamtlichen Jugendoffizieren und »Karriereberatern« zur Rekrutierung genutzt. Sprüche wie »süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben«, sind out. Popmusik, die Verheißung eines kostenlosen Hochschulstudiums oder eines sicheren »Arbeitsplatzes« sind an die Stelle der Gewalt und des Alkoholeinsatzes getreten. Abenteuer und Kameradschaft statt Tod und Bomben. Oder, wie es eine Anzeigekampagne der Bundeswehr versprach: »Coole Beach-Partys, crazy Strandspiele und jede Menge Fun.« in den Richtlinien der Bundeswehrführung heißt das »zielgruppengerechte Sprache«. Der Jugendoffizier soll nicht älter als 32 Jahre, von seinem Auftreten her »frisch und jugendlich« sowie »redegewandt, schlagfertig und mit einer Portion Humor« ausgestattet sein. Und er soll auch, wie Bundespräsident und Pastor a. D. Joachim Gauck öffentlich äußerte, als »Mutbürger in Uniform« Vorbild für die vielen in unserer »glückseligen Gesellschaft« sein, denen es »ein Gräuel« ist, »dass es wieder deutsche Gefallene gibt«.

Glaßer beleuchtet nicht nur die Methoden der »Werber«, sondern berichtet auch über die vielfältigen Gegenaktionen von Schülervertretungen und Gewerkschaften, vor allem der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), sowie der Friedensbewegung. Für die Militarisierung der Schulen, die generalstabsmäßig geplanten Einsätze der »Pressgangs« waren im vergangen Jahr offiziell fast 30 Millionen Euro im Haushalt eingeplant (2009 und 2010 waren es jeweils 12 Millionen, 2011 bereits 16 Millionen). Weitere Summen, etwa die Gehälter der Jugendoffiziere und der »Karriereberater«, kommen aus anderen Haushaltsposten.

Ein Lehrbuch, nicht zur Freude der Bundeswehrführung, die Glaßer bei seinen Recherchen auch keinen roten Teppich ausgerollt hat. Was verständlich ist, da dieser nicht nur Kritik an den fragwürdigen Methoden der Bundeswehr äußert, sondern zugleich seine Motivation so beschreibt: »Zugrunde liegt das langfristige Ziel einer Welt ohne Armeen.«

Michael Schulze von Glaßer: Soldaten im Klassenzimmer. Die Bundeswehr an Schulen. PapyRossa. 135 S. br., 12 €.

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