»Man ist immer Teil des Dramas«

Margaret Raspé ist die Frau mit dem Kamerahelm. Von Ulrike Gramann

  • Ulrike Gramann
  • Lesedauer: 8 Min.

Ein Film: Hühner wie aus dem Bilderbuch picken im Garten. Ein Messer wird am anderen geschärft. Hände streichen dem Huhn über den Hals. Es hält still und zuckt erst wieder, als der Hals durchschnitten wird. Hände rupfen die Federn, flämmen das Tier ab, schneiden es auf, ziehen Eingeweide heraus. Die Hände gehören der Frau, die, während sie all dies tut, zugleich ihre Tätigkeit filmt, obwohl sie keine Hand dafür frei hat. Dann liegt das Huhn tot und kopflos da, der blutige Hals wie ein Mund. »O Tod wie nahrhaft bist du«, heißt der Film, in dem noch ein zweites Huhn erscheint, »Pucky Pick«, ein tiefgekühltes Plastikfoliensupermarkthuhn. Die Künstlerin Margaret Raspé brachte 1972 die beiden Hühner in den Suppentopf und filmte ihr Tun so genau, wie die meisten von uns es lieber nicht wissen wollen. »Man ist immer Teil des Dramas«, sagt sie: »Ich bin drin, nicht draußen, kein Engel, der auf einer Wolke sitzt und zuschaut, was die Menschlein machen.«

Margaret Raspé treffe ich tief im Südwesten Berlins, wo in Straßen mit altem Baumbestand das Großbürgertum residiert. Aber in der Villa hinter dem verrosteten Tor geht es nicht gar so bürgerlich zu. Sie ist erfüllt von den Spuren des Lebens, der Performances und Experimente Raspés, die in diesem Jahr achtzig Jahre alt geworden ist. In einem der oberen Zimmer stehe ich vor einem leuchtend blauen »Marienmantel«, einst Teil einer größeren Installation, über und über mit Silberstreifen bedeckt. Die vielen Namen der Maria, die Raspé darauf verewigen wollte, sind im Schwarz des gealterten Materials verschwunden. Von manch anderen Arbeiten blieben nur Fotos und Berichte im Werkverzeichnis. Bleibende Werte, die man mit Performancekunst schafft, existieren eben vor allem im Kopf.

Film existiert dadurch, dass man ihn sieht. Raspés kurze Super-8-Filme stammen hauptsächlich aus den 1970er Jahren und sind ungewöhnlich und erhellend. Ihnen liegt Raspés Idee zugrunde, ihrer Hände Arbeit mit einer am Kopf montierten Kamera zu filmen, und zwar so, wie sie sie mit eigenen Augen sah. Dafür mussten die Hände frei bleiben. Jetzt plant die filmkundige Madeleine Bernstorff in Berlin gemeinsam mit der Kinothek Asta Nielsen in Frankfurt am Main, die Filme wieder zu zeigen. Zusätzlich sollen sie restauriert, digitalisiert und in die Sammlung der Stiftung Deutsche Kinemathek aufgenommen werden. Dafür wurden im Spätsommer 2013 die Filme gesichtet, eine der bislang sehr seltenen Chancen, sie zu sehen.

Zu sehen ist zum Beispiel, wie Raspé ihre eigenen Haushaltsverrichtungen beobachtete, »alle Tage wieder«, so einer der ironischen Titel: Tassen mit Kaffeeresten werden gespült, Teller mit Nudelresten, Aschenbecher mit Ascheresten. Über alles fließt das Wasser aus dem Hahn, 19 Minuten lang. Die Haus- und zugleich Kamerafrau schrubbt mit einer Bürste, reinigt die Geschirrteile mit bloßen Fingern, jedes Stück wird genommen, gewaschen, geschwenkt, abgestellt. Das Kameraauge begutachtet die Stapel. Im Gespräch berichtet Raspé von der Gleichförmigkeit und Gleichgültigkeit der Hausarbeit, auf die sie keine Lust gehabt habe. Wenn man sieht, wie sie in »Backe backe Kuchen« einen Teig zusammenhaut, mit großen Mengen Mehl und Hefe, glaubt man das sofort. Der Klumpen Teig wirkt elementar, wie aus der Erde gequollen, das Wort »lecker« denke ich nicht unbedingt dabei. Würde ich den Teig genauso bereiten, das Geschirr mit bloßen Händen spülen? Die Zuschauerinnen kommen in Austausch. Das war auch so, als die Filme erstmals gezeigt wurden; die Filmemacherin Helke Sander hat es in der Zeitschrift »Frauen und Film« beschrieben. Es sei ein gelungenes Beispiel für den Film einer »Betroffenen«, schrieb Sander und von der »unbewussten Routine« einer, die solche Arbeit seit zwanzig Jahren täglich macht. Raspé bestätigt, sie habe die Hausarbeit »automatisch« getan, ohne Blick dafür: »Erst als ich die Kamera dazwischenschaltete, habe ich meine Arbeit wieder gesehen.«

Diese Arbeit war, nachdem Raspé in den Jahren 1958 bis 1961 drei Töchter zur Welt gebracht hatte, vor allem Reproduktionsarbeit. Nach Schneiderlehre, Gesellenprüfung, Studium von Malerei und Mode, das sie abbrach, hatte sie einen beruflich erfolgreichen, karrierebewussten Chemiker geheiratet. 1963 kauften sie die Villa, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg gebaut worden war. Raspé setzte sie instand, renovierte sie, versorgte Kinder und Garten. Schön war sie auch. Sieht man sie heute in rotem Pullover, roter Hose und roten Turnschuhen auf einem Gartenstuhl sitzen, hungrig rauchen, beim Reden lebhaft gestikulieren, erkennt man es noch immer. Sie berichtet, wie sie eben die Kinder ins Bett gebracht hatte und in der nächsten Minute makellose Gastgeberin sein sollte. »Es war klar, dass ich innerhalb dieses Zusammenhangs keine Kunst würde machen können.« Allerdings blieb sie »nebenbei« erwerbstätig, entwarf und nähte Kleider und Kindermode. Dabei erfuhr sie viel über Frauen und deren Leben. Ihre Idee kam also nicht aus dem Nichts, sondern entstand in einer Zeit, in der das Private nicht nur politisch war, sondern endlich auch so bezeichnet wurde.

1971 scheitert die Ehe. Raspé steht da, mit drei heranwachsenden Mädchen und, immerhin, dem Haus, das freilich auch unterhalten sein will. Geld sei knapp gewesen. In diesem prekären Moment nimmt sie die unterbrochene künstlerische Arbeit wieder auf. Ich begreife: Jetzt hatte sie Kopf und Hände frei. Doch wer für die Kunst lebt, von Ausnahmen abgesehen, braucht Brotjobs, fürs Brot und weil jede Kunst nach Material verlangt. Das andere dringend benötigte Gut ist Zeit. Das Haus trägt, neben Lehraufträgen und Gymnastikunterricht, zum Unterhalt bei, indem Raspé einen Teil vermietet. Die Mitbewohner sind Künstlerkollegen, das bringt neben Geld produktive Debatten an den langen Tisch in der Küche, die voll ist von Objekten, Geräten, Kuriositäten, Kunststückchen. Eine Kommune sei die Wohngemeinschaft nicht gewesen. Ein Hauch davon schwebt trotzdem im Licht der Fenster zum Garten.

Zu den damaligen Bewohnern gehörten Mitglieder der »Wiener Aktionisten«, von denen sie wichtige Impulse erfahren habe. Sonst habe sie die Kunstszene des damaligen Westberlins, die sie als vordergründig politisch empfand, gelangweilt, mit Ausnahme der Fluxus-Bewegung. Sowohl diese als auch die Aktionisten hätten, genau wie sie selbst, Interesse für Performances und Aktionen entwickelt, den Blick auf Bewegung, Prozesse, Körperlichkeit und rituelles Handeln gerichtet. Von dem umstrittenen Aktionisten Hermann Nitsch spricht sie als Freund, seine Arbeit habe »unglaublich anregend« gewirkt. Der Anregung ist es gleich, wo man sie findet. Mag Rituelles in ihnen anklingen, im Grunde sind Raspés Arbeiten sehr konkret. Wasser beschäftigte sie intensiv. Sie legte Wolle in verschmutzte Gewässer, die den Schmutz aus dem Wasser aufnahm, so, wie unsere Lungen ihn aus der Luft filtern. Und sie habe »selber reingehen« müssen, »um zu zeigen, dass das schmutzige Wasser jeden angeht«. 1990 stieg sie in der Performance »Wasser ist nicht mehr Wasser« in das verunreinigte, buchstäblich schwarze Wasser der Bzura nahe Lodz, bekleidet mit einem weißen Hemd. Sie sang dabei, bis die Stimme versagte. Die Leute seien »wirklich erschrocken« gewesen. Selbstmörderisch war sie nicht, schützte ihren Körper mit einer Schicht Vaseline. Unter den Finger- und Fußnägeln, die sie vergessen hatte, ließ sich der Chemikaliendreck wochenlang nicht entfernen.

Mit ganzem Körpereinsatz entstanden auch die Filme. Damit das Kameraauge mit Raspés eigenen Augen schauen konnte, experimentierte sie so lange, bis sie die Kamera vor den Augen befestigt hatte, ohne sie mit den Händen halten zu müssen. Ein Architekt gab ihr den Impuls, die Kamera so auf einen Bauarbeiterhelm zu montieren, dass sie behelfs eines kleinen Gestells direkt vor den Augen hing. Ich überrede Margaret Raspé, den Helm noch einmal hervorzuholen und aufzusetzen, im Dämmer eines schwach beleuchteten Zimmers. Fotografieren lässt sie sich nicht mehr damit. Das Ding ragt nach vorn über den Kopf, man sieht den Helm schwer auf Kopf und Nacken lasten. So ist analoge Technik. Etwas tun und es zugleich filmen scheint im digitalen Zeitalter sofort oder gleich für jedermann möglich, eine Brille, die, vor die Augen gesetzt, direkt fotografiert und filmt, ist bereits erfunden, die Grenze zwischen Mensch und Maschine längst verschwommen. Aber keine ausgefeilte technische Lösung ersetzt den neugierigen Blick, mit dem Kunst entsteht.

»Kann ich mir erlauben, zu Ende zu denken?«, lautet die Frage, die Margaret Raspé im Gespräch immer wieder stellt. Sie berührt den Kern künstlerischer Arbeit. Radikale ästhetische Positionen fördern nicht unbedingt den Verkauf. Zerstörung zu zeigen, Transformationen wie diejenige vom gackernden Huhn in die Suppe, ist selten populär. Erstaunlich gering ist der nostalgische Charme der kurzen Filme, auch wenn einige Lebensmittel und Küchengeräte darin aus der Kindheit vertraut sind. Zu Ende denken: Was tue ich, warum und wie, und welche Folgen zeitigt es? Wenn der Alltag aus einer Frau einen »Frautomaten« macht, was macht dann der Frautomat, wenn man ihm endlich »Selbstbewegungen« erlaubt? Raspé zeigt auch das, indem sie sich und ihre Hände beim Zeichnen mit Stiften und Malen mit starken Farben filmt. Schnelle leidenschaftliche Bewegungen wechseln mit Passagen, in denen die Bewegung kleinteilig wird, mit kurzem Verharren, Nachdenken, auf der Suche nach dem Handwerkszeug, einem frisch gespitzten Stift, einem anderen Pinsel. Beim Zuschauen kommt Vergnügen auf, Lust, Lachen. Warum? »Ich möchte selber denken dürfen«, sagt Margaret Raspé.

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