Schuldlos schuldig

Enescus »Oedipe« in Frankfurt am Main

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 2 Min.

Oedipe» ist die einzige Oper des rumänischen Geigenvirtuosen und Komponisten George Enescu (1881-1955). Das 1936 in Paris uraufgeführte, nur selten gespielte Werk gehört zur Gruppe der zu Unrecht vom Repertoire verschmähten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts.

In seiner Inszenierung an der Oper Frankfurt lässt Regisseur Hans Neuenfels die Geschichte vom König, der unwissentlich seinen Vater umbrachte, Theben vom Fluch der Sphinx befreite und seine Mutter heiratete, nach dem Erkenntnisschock und der Selbstblendung enden. Unter dem projizierten Schriftzug «Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung» darf der schuldlos Schuldige, geführt von seiner Tochter Antigone, von dannen ziehen. Die Zuschauer lässt er ohne den letzten Akt, doch so betroffen wie begeistert zurück.

Angereichert mit ein paar opulenten Versatzstücken, wie Elina Schnizlers Gothik-Kostümen für einen Teil des Volkes oder der orakelnden Eleganz der Sphinx, zelebriert Neuenfels eine Irrfahrt und Erkenntnissuche in der Überfülle unerkannten Wissens. Rifail Ajdarpasic lässt ein Labyrinth aus Wandtafeln aussehen wie die Stadtmauern von Theben, vollgeschrieben mit mathematischen und chemischen Formelungetümen.

Hier forscht Oedipe zunächst als Wissenschaftler im weißen Kittel, findet sich dann aber plötzlich zwischen den historisch ausstaffierten Schatten der Vergangenheit. Er erlebt mit, wie ein großes Ei von der Decke schwebt und dem neugeborenen Sohn des Königs Laios der Lebenssupergau prophezeit wird. Das, was zum berühmten nach ihm bekannten Komplex in der Psychoanalyse führte, also unbewusster Vatermord und Mutterinzest. Mittendrin will er das Verhängnis vermeiden und führt es dadurch mit herbei. Erlebt die Urangst um unsere zivilisatorischen Gewissheiten am eigenen Leib. So wie sie immer noch rumort.

Enescu hat dafür eine musikalische Form gefunden, deren Wucht und Wirkung man kaum ausweichen kann. Alexander Liebreich sorgt am Pult des Frankfurter Opernorchesters für einen faszinierend durchhörbaren Klang des Grauens. Das Ensemble stellt sich mit Emphase der Herausforderung, nicht im französischen Original, sondern in der deutschen Übersetzung von Henry Arnold zu singen. Was nur in den gesprochenen Passagen nicht funktioniert. Doch wie Simon Neal den Ödipus und Tanja Ariane Baumgartner die Mutter/Gattin Jokaste vokal beglaubigen und Katharina Magiera als grandiose Sphinx brilliert, das krönt eine exzellente Ensembleleistung, zu der alle Protagonisten und der Chor mit seinen oratorischen Kommentaren beitragen.

Nächste Vorstellung: 18.12.

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