Wenn das bloße Auge nicht reicht

Im Kino: »Das Geheimnis der Bäume« und »Imagine« fordern alle Sinne heraus

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn die Erzählerstimme anhebt mit den Worten: »Mein Name ist Francis Hallé, ich habe mein Leben in Wäldern verbracht«, dann ist das zunächst irritierend. Denn die Stimme, die der Zuschauer der deutschen Synchronfassung da hört, ist unzweideutig nicht die des französischen Botanikers und Urwaldforschers, sondern die von Bruno Ganz. Dem man natürlich gerne lauscht, auch wenn er sich da unter falschem Etikett akustisch einschmeichelt. Es gibt keine direkten Interview-Situationen in diesem Film, keinen Text über die lebensrückblickenden Sätze hinaus, für die Ganz Hallé zu eher kontemplativen Bildern seine sonore Stimme leiht.

Die anfängliche Irritation durch die Stimme bleibt nicht die einzige dieses schönen Films, der den weißhaarigen, schieberbemützten, jeanshemdtragenden Hallé vor der Kamera stets schweigend zeigt, zeichnend, staunend inmitten von Bäumen. Oder aus einer Baumkrone mit den Beinen baumelnd. Auch auf die formschön gezeichneten Trickbilder lichtwärts strebender Pflanzen und Pflänzchen vor realen Bildern eines ausgewachsenen Urwalds, mit denen das Team um Naturfilmer Luc Jacquet in »Das Geheimnis der Bäume« eben dieses Geheimnis in Szene setzt, muss man sich erst einlassen. Ein Geheimnis ungeheurer Produktivität, die aber Zeit braucht, sich zu entfalten.

Eine Zeit, die der ungeduldige Mensch und seine Profitgier dem langlebigen Wald oft nicht mehr lässt. »Das Geheimnis der Bäume«: ein Film, der die Sinne schärft für das, was man nicht sehen kann. Schon weil das Leben eines Menschen nicht annähernd ausreicht, um das Entstehen eines tropischen Regenwalds in einer Spanne von rund 700 Jahren mit eigenen Augen zu erleben - oder die Regeneration nach einem Kahlschlag.

Auch der Spielfilm »Imagine« handelt von Leben, die mit anderen Sinnen erfahren werden wollen als mit den bloßen Augen. Seine Helden sind blind, aber sie gehen sehr verschieden damit um. Die Patienten einer Spezialklinik, Kinder zumeist - aber auch Alexandra Maria Lara ist unter ihnen, als offenbar frisch erblindete, sich scheu hinter dunklen Mauern verbergende Deutsche Eva -, müssen mit anderen Sinnen wettmachen, was ihre Augen nicht wahrnehmen können. Um ihnen das beizubringen, berief die Klinik den britischen Blindenlehrer Ian (Edward Hogg) nach Lissabon. Seine Methode ist nicht das Ertasten von Hindernissen mithilfe eines Blindenstocks, sondern das Hören auf Schallwellen und Geräusche.

Bellt im Hof der Hund, kam wohl die Katze vorbei, die eben von der Küchenfrau zur Fütterung gerufen wurde. Und schnalzt man mit den Fingern, gibt der Ton, der zurückschallt, Auskunft über Beschaffenheit und Nähe der nächstgelegenen Körper. Es ist ein dreidimensionaler Sinneseindruck wie eine blitzhelle Momentaufnahme, die jedes Fingerschnippen und Schnalzen mit der Zunge vor dem inneren Auge hinterlässt. Delfine sind dem Menschen weit voraus, was die Orientierung per Echoortung angeht. Aber auch der Mensch kann lernen, sich mit ihrer Hilfe zurechtzufinden. Erst aber muss die Interpretation der Momentaufnahmen geübt werden.

Viel zu gefährlich für die Kinder, befindet die Klinikleitung; auch unter den Patienten breitet sich Misstrauen aus: So sehr hat Ian seine Methode perfektioniert, dass sie ihm nicht glauben mögen, dass er wirklich genauso blind ist wie sie. Sein »Sehen« mit dem Widerhall von Gegenständen und Gebäuden - alles nur ein Trick, um bei den Patienten falsche Hoffnung zu wecken? Dass Ian parallel zur akustisch-geografischen auch eine Welt-»Betrachtung« durch die inneren Augen lehrt, durch Fantasie und Kombinationsgabe, gefällt der Klinikleitung noch weniger als seine Echoortung. Und dass sie schließlich glauben, ihn dabei erwischt zu haben, wie er sie mit vorgetäuschter Realitätsschilderung an der Nase herumführte, das nehmen ihm die Patienten übel. Ein Scheitern, wie Ian es offenbar nicht zum ersten Mal erlebt.

Der Warschauer Filmemacher Andrzej Jakimowski (»Kleine Tricks«) inszeniert den Versuch einer angstfreien Öffnung gegenüber der Welt unter erschwerten Bedingungen als Balanceakt zwischen Zu- und Vertrauen und dem Machtpotenzial, das in der Einschüchterung von Schutzbefohlenen liegt. Die Klinik, ein archaisch anmutendes Anstaltsgebäude mit einem hellen Hof, dunklen Gängen und mit überfürsorglichem Personal ist physisch sicher für die Kinder, aber auch entfernt von allem Leben. Die muntere Vielsprachigkeit unter den Patienten verdankt sich wohl ebenso wie Star-Besetzung und Drehort Lissabon der pan-europäischen Finanzierung des Films.

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