Gegen eine Neugründung Europas

Wo ist die reale Handlungsfähigkeit? Eine Antwort auf Felix Syrovatka

  • Moritz Kirchner
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Debatte um die Europa-Politik der LINKEN spitzt sich zu. Dies zeigen die vielen Beiträge, aber auch die Kontroversen, in die sich inzwischen auch der Fraktionsvorsitzende eingeschaltet hat. Frank Puskarev und Thomas Händel haben in einem historischen Abriss der linken Europa-Debatte gefordert, die derzeit bestehende Europäische Union sozialer zu gestalten und ein gemeinsames Europäisches Alternativprojekt zu schaffen. Felix Syrovatka antwortet ihnen in einer kritischen Replik, dass die Kräfteverhältnisse innerhalb Europas so nicht seien, und dass langfristig eben doch eine Neugründung Europas auf der Tagesordnung stehen müsse.

Leider enthält der Text Syrovatkas zwei fundamentale innere Widersprüche, die das politische Programm wenig überzeugend erscheinen lassen. Denn erstens ist es sehr schwierig, so etwas wie eine Neugründung langfristig auf eine Tagesordnung zu bekommen. Zumal dies auch nicht die Frage wirklich klärt, was derzeit gerade getan werden muss, und mit welchen konkreten Gestaltungsvorschlägen DIE LINKE dann zur Europawahl antritt.

Der viel fundamentalere Widerspruch ist jedoch der, dass eben aufgrund der derzeit gegebenen Kräfteverhältnisse bei einer Neugründung ein wahrscheinlich deutlich schlechteres Europa herauskäme, welches unter Vorherrschaft des neuen Hegemons Deutschland noch mehr Austeritätspolitik diktiert, und in dem durch den innenpolitischen Druck zum Beispiel des Front National, der UK Independent Party, Jobbik, der AfD und anderen der Rückweg zum Nationalstaat wahrscheinlich vorprogrammiert ist. Strategisch wäre eine Neugründung derzeit aus linker Sicht nicht verantwortbar. Und sie ist auch nicht überzeugend, und der Weg dies zu tun völlig unklar, worauf ich in einem anderen Debattenbeitrag verweise.

Felix Syrovotka verweist zurecht darauf, dass die EU ein Elitenprojekt ist, und ebenso darauf, dass die gegenwärtige EU wesentlich ein neoliberales Elitenprojekt ist. Dem sind jedoch mehrere Dinge zu entgegnen.

Erstens, die Aufgabe der Politik besteht in der Änderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Diejenigen, die hier mit Ideen voranschreiten, werden temporär immer Eliten sein. Und nach dem Zweiten Weltkrieg voranzugehen und ein Projekt zur langfristigen Transzendenz von Nationalstaaten von oben zu planen, ist sicher elitär, aber deswegen nicht falsch. Und historisch betrachtet: Auch die russische Revolution war ein Elitenprojekt, nur hießen die Eliten damals Avantgarde.

Zweitens ist die Idee der politischen Linken, aber auch der LINKEN als Partei immer die Vernetzung von Akteuren, der Zusammenschluss gegenhegemonialer Kräfte und die Artikulation an der Spitze des Protests. Das heißt, auch in unserem eigenen Selbstverständnis wollen wir Eliten sein, eben gegenhegemoniale Eliten.

Drittens wird hier eine Homogenität der Europäischen Eliten angenommen (ebenso im Alternativen Programmentwurf zur Europawahl von Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke und anderen), die nicht der komplexen Europäischen Realität entspricht. Die französischen Eliten dürften nicht begeistert sein über die Dominanz der deutschen Eliten etc.

Das heißt, das Problem ist nicht, dass die EU ein Elitenprojekt war und immer noch ist. Sondern dass sie es immer noch zu sehr ist, und dass es immer noch zu wenig Mitsprache- und Gestaltungsrechte hat. Auch die Europäische Bürgerinitiative ist immer noch mehr ein demokratisches Feigenblatt.

Felix Syrovotka wirft dem Text von Puskarev/Händel eine sozialdemokratische Stoßrichtung vor. Dies erinnert sehr stark an die Bernstein-Luxemburg-Kontroverse zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts um Reform und Revolution, diesmal eben auf europäischer Ebene. Natürlich ist die Idee eines alternativen Europas immanent reformistisch. Jedoch wird hierbei ein zentraler Mechanismus übersehen, welcher in der Psychologie als shifting baselines (etwa: sich verschiebende Grenzlinien) bezeichnet wird. Dieses besagt, dass Menschen das, was sie für normal halten, sich im Laufe der Zeit durch Umwelteinflüsse verändern kann. Alte Fischer/innen finden zum Beispiel, dass es heute kaum noch Fischbestände gibt. Für jüngere Fischer/innen ist das normal.

Im Kontext der EU bedeutet das: Heute kennen wir eine EU, die relativ oft von oben durchregiert. Wenn wir aber eine EU kennenlernen, die europaweite Mindestlöhne durchsetzt und eine Sozialunion etabliert, so finden wir das irgendwann normal. Und werden nach weiteren Schritten fragen. Das ist dasselbe Prinzip wie jenes, dass wir es heute völlig normal finden, an Universitäten anderer europäischer Staaten zu studieren, und uns im Zuge dessen immer weniger durch unsere nationale Identität zu formulieren. Strukturelle Reformen haben das Normalitätsverständnis hin zu einer inklusiven, gesamteuropäischen Identität verschoben. Das ist der zentrale politisch-psychologische Mechanismus des Reformismus.

Felix Syrovotka verweist auf die Zivilgesellschaft, auf die sozialen Bewegungen und auf die Wohnungsfrage als mögliche Akteure der vagen Neugründung Europas. Dies erinnert an ein Grundproblem der LINKEN. Wenn uns sonst kein Subjekt der Transformation einfällt, dann sind es die sozialen Bewegungen. Das Problem ist hierbei jedoch erstens, dass diesen institutionelle Macht fehlt, gerade im Vergleich zu den bisherigen Eliten. Zweitens folgen soziale Bewegungen oft dem Muster des Herzschlags: Kurze Höhepunkte (Anti-G8-Proteste, Blockupy etc.), aber zwischendurch sind sie sehr weit unten. Es bedarf jedoch kontinuerlicher Akteure, um ein komplexes und träges Gebilde wie Europa entscheidend zu verändern.

Das dritte, aus meiner Sicht aber entscheidende Problem ist jenes der selektiven Wahrnehmung der Zivilgesellschaft. Denn diese beinhaltet nicht nur progressive Elemente, wie zum Beispiel aktuell an der deutschen Petition gegen das Schulthema Homosexualität, aber auch Anti-Roma-Proteste und viele weitere, aus linker Sicht gruselige Initiativen zeigt. Es bedürfte also eines Exklusionsmechanismus gegenüber Akteuren, welche auf einer a priori zu definierenden »richtigen« Idee von Europa basiert. Diese Exklusion aber widerspräche zum einen der linken Idee der Inklusivität und Partizipation. Zum zweiten aber, und das ist der innere Widerspruch dieses Vorschlags, sollte diese »richtige Idee« dort ja eigentlich erst erarbeitet werden.

Wir sollten das bestehende Europa in unserem Sinne gestalten, statt einer metaphysischen und, wie aufgezeigt, sehr widersprüchlichen Idee einer Neugründung hinterherzuhängen.

Moritz Kirchner gehört dem Kreisvorstand der Linken in Potsdam an.

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