Revolutionsträumereien aufschieben

Christian Wienert über die Verteidigung der Europäischen Union von links. Thesen zu Europa und Erwartungen an den Europaparteitag

  • Christian Wienert
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Europäische Union und damit auch Europa befinden sich in einer existenzbedrohenden Krise. Europaskepsis, -feindlichkeit und -ablehnung sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Entsolidarisierung auf europäischer Ebene und Renationalisierung im politischen Denken und Handeln nehmen zu.

Dafür ist allerdings die aktuelle Verfasstheit Europas hauptverantwortlich. Die EU in ihrem gegenwärtigen Zustand ist ökonomisch neoliberal ausgerichtet, in ihren politischen Handlungen intransparent und weitgehend undemokratisch. EU-Verträge, die ausschließlich der herrschenden Klasse dienen und die Umverteilung von unten nach oben weiter vorantreiben, lassen große Teile der EU-Bevölkerung auf der Strecke und führen eben zwangsläufig zur Ablehnung der EU und dem Aufgeben einer europäischen Idee.

Populistische Lösungen fallen leicht. Diese Europaskepsis zu bedienen und politisch wieder verstärkt im nationalen Rahmen zu denken und zu handeln, scheinen erfolgversprechend zu sein. Politik auf nationaler Ebene ist fassbarer, weil das Konstrukt Nation eben doch alt genug ist, um vielen als naturgegeben und immerwährend zu erscheinen.

Wegen der aktuellen politisch-ökonomischen Ausrichtung der EU ist die Schlussfolgerung, dass national orientierte Politik den Charakter von antikapitalistischer Politik trage, verlockend – und das ungeachtet linker oder rechter Vorzeichen dieser Politik. Zum Glück begehen nur wenige politische Linke den Fehler dieser Schlussfolgerung. Doch ist Fundamentalkritik an der EU auch in der Linkspartei weit verbreitet, wenn auch unter grundsätzlicher Befürwortung einer »europäischen Idee«.

Die EU wird dabei ausschließlich als politischer Vollziehungshebel neoliberaler Wirtschaftsinteressen begriffen und verurteilt. Dabei bleiben jedoch wichtige und unterstützenswerte Aspekte unberücksichtigt bzw. unerwähnt. Zum Beispiel ist die EU die politische Konstruktion, die weltweit die meisten Menschenrechte realisiert. Das europäische Rechtssystem und die Rechtssicherheit aller EU-Bürgerinnen und -Bürger suchen ihres Gleichen. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Die Menschen in der EU genießen weitgehende Freizügigkeiten. Die Aussichten auf ein friedliches Zusammenleben, Arbeit und Sozialleistungen machen die EU als Ziel für Millionen Flüchtlinge attraktiv.

Das sollen nur einige Beispiele zur Veranschaulichung sein und natürlich sind auch diese Eigenschaften der EU nicht das Ende der Geschichte und nicht unverbesserbar. Sie und damit die Europäische Union sind aber grundsätzlich verteidigungswürdig.

Leider sind die Stimmen dieser Verteidigung in der Linkspartei leiser, bzw. die der Fundamentalkritik lauter geworden. Der Leitantrag und vor allem der alternative Leitantrag sind auch Ausdruck dessen. Schon der erste Satz im Leitantrag des Parteivorstands ist falsch. »Die Europäische Union war einst eine Hoffnung für die Menschen.« Warum steht dieser Satz im Präteritum und nicht im Präsens? Man stelle sich vor, das Programm ende nach diesem Satz. Wäre damit alles gesagt? Ein Programm ist nur dann gut, wenn alle seine Teile für sich genommen Gültigkeit besitzen und schlüssig sind. Man muss nach jedem beliebigen Satz aufhören können zu lesen und denken: »Das ist richtig, gut und unterstützenswert.« Der erste Satz zerstört in dieser Form jeden Anspruch der Linkspartei auf eine glaubwürdige pro-europäische Politik.

Noch schlimmer treibt es in diesem Sinn der alternative Leitantrag, der dem eben besprochenen Satz noch einen voranstellt: »Ein Schreckgespenst geht um von (!) Europa: Die Europäische Union« Damit wird nicht nur auf primitive Art und Weise versucht, dem Antrag einen marxistischen Anstrich zu geben, indem man beweist, dass man den ersten Satz des Kommunistischen Manifests gelesen hat. Hier wird auch noch durch den Satzbau bewiesen, dass der ganze Antrag mit heißer Nadel gestrickt worden ist und unter Umständen gar nicht den Charakter eines ernst gemeinten Antrags sondern vornehmlich den der Provokation trägt. Eine grundsätzliche Verteidigung der EU lassen somit beide Anträge zumindest in den wichtigen ersten Sätzen vermissen.

Doch sollten wir uns bewusst sein, dass die stärkste Verteidigung der EU in ihrer aktuellen Verfassung das Kapital führen wird. Eine Renationalisierung wird es mit aller nötigen Gewalt bekämpfen, denn die Ökonomie hat den nationalen Boden längst verlassen. Das Kapital wird sich nicht zurück in nationale Rahmen drängen lassen, weil Grenzen den Expansionsdrang hemmen und das Kapital den globalen Markt braucht und fordert. Doch das Kapital wird eine EU verteidigen, die ihm nützt, also z.B. eine EU, in der das Parlament nur wenige und EU-Kommission, und -Rat weitgehende Befugnisse haben.

Die aktuelle EU-Verfassung dient nicht den Menschen und muss kritisiert werden. Doch, jede auf nationale Bezugsgrößen orientierte Politik wird scheitern und marginalisiert, weil das Kapital viel mächtiger ist, als kleine populistische Parteien. Wenn Europa nicht den Kapitalinteressen überlassen werden soll, muss der Ausruf der Linken ein deutliches »JA« zu Europa und zur Europäischen Union sein. Auf internationale Probleme gibt es keine nationalen Antworten. Die sozialen Grenzen verlaufen nicht zwischen Mitgliedsstaaten in Europa wie z.B. dem konstruierten Nord- und Südeuropa, sondern sie verlaufen zwischen den Nutznießern der aktuellen EU und den ausgebeuteten Bevölkerungsteilen, welche die Nutznießer der EU von morgen sein müssen.

Also muss der Europaparteitag der Linkspartei zunächst eine progressive und von nationalen Interessen freie Definition der »Europäischen Idee« finden. Die Kriterien für diese Formulierung sind klar. Europa muss demokratisch verfasst und europäische Politik sozial ausgerichtet sein. Die Wirtschaft soll den Menschen, statt nur einer Klasse von ihnen dienen, so dass die materiellen Unterschiede ausgeglichen werden. Nur soziale Gleichheit gewährleistet auf Dauer das friedliche Zusammenleben der Menschen.

Aus einer derartigen Definition der europäischen Idee müssen konkrete Vorschläge zur Reform der aktuellen Europäischen Union abgeleitet werden. An dieser Stelle sollen nur ein paar Kernthesen angeführt werden. Die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments wäre die Grundvoraussetzung für eine Demokratisierung. Durch mehr Demokratie könnten die politisch-gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine europäische Wirtschaftsordnung gesetzt werden, welche die gesellschaftszerstörerischen Kräfte zügelt und für eine Umverteilung des Reichtums in der EU von oben nach unten sorgen könnte.

Das Stellen der Eigentumsfrage mit der Antwort der Entprivatisierung ist dieser Politik immanent. Der Internationalisierung der Wirtschaft muss die Internationalisierung aller anderen gesellschaftlichen Bereiche folgen – einschließlich der Verteidigung. Natürlich rückt die Überwindung des Kapitalismus – eine soziale Revolution – auf europäischer Ebene in noch weitere Ferne, als sie es auf nationaler Ebene ohnehin ist. Doch sollten Teile der Linkspartei ihre Revolutionsträumereien aufschieben. Wenn sie politisch bedeutsam bleiben sollen, ist die Fokussierung der Linken auf aktuelles realpolitisches Handeln zugunsten der ausgebeuteten Klasse freilich unter Beibehaltung der Vision des Demokratischen Sozialismus von Nöten.

Die EU ist für die meisten Menschen nicht nur geographisch weit weg. Sie den Menschen näher zu bringen, erlebbar zu machen und sie zu einer Mitgestaltung zu animieren, wäre revolutionär und ist damit originäre Aufgabe der Linken.

Christian Wienert ist Mitglied der Linkspartei in Dortmund.

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