Blutige Rückeroberung der Barrikaden

Scharfschützen töteten im Zentrum von Kiew / Hauptstädter rüsten sich mit Hamsterkäufen für die Krise

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Das Zentrum der ukrainischen Krise ist die Hauptstadt Kiew. Hier töten Scharfschützen, hier sorgen sich die Bürger um den nächsten Tag.

Es war weit mehr als eine Unwetterwarnung, als gegen Mittag die Kiewer Miliz die Bürger aufforderte, im Interesse ihrer Sicherheit von privaten Fahrten und Aufenthalten in der Innenstadt abzusehen. »Auf den Straßen befinden sich bewaffnete und aggressive Personen«, lautete die Begründung. Spätestens damit geriet am Donnerstag das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt in eine Art Ausgangssperre und das Land vielleicht sogar an den Rand des Ausnahmezustandes.

Aus Lebensmittelgeschäften wurden von ukrainischen Medien bereits Hamsterkäufe berichtet. Viele Brotregale seien leer geräumt worden. Die Hauptstädter stünden Schlange, um sich mit länger haltbaren Lebensmitteln wie Reis, Nudeln oder Buchweizen, aber auch Butter und Speiseöl einzudecken. Milch, Eier und auch Toilettenpapier seien zum Teil ausverkauft. Die Bürger seien tief besorgt über die derzeitige Krise, hieß es, und fürchteten deren Verschärfung. »Keine Panik!« versicherten immerhin die Mineralölgesellschaften. Es gebe weiterhin ausreichend Benzin und Diesel. Preissteigerungen seien derzeit nicht zu befürchten.

Die Staatsmacht war in den Morgenstunden buchstäblich in die Flucht geschlagen worden. Was Sondereinheiten des Innenministeriums und Milizionäre in der blutigen Nacht zum Mittwoch geräumt hatten, wurde von den Gegnern der Regierung ebenso zurück erobert. Hunderte maskierte Demonstranten attackierten Polizeiabsperrungen und bewarfen Sicherheitskräfte mit Molotowcocktails. Sie nahmen den Unabhängigkeitsplatz (Maidan) wieder in Besitz. Wie ein AFP-Korrespondent berichtete, lagen vor einem Hotel am Rand des Maidan zehn Leichen mit Schussverletzungen auf dem Boden.

Eine Waffenruhe, die dem nationalen Trauertag gut angestanden hätte, wurde damit brutal gebrochen. Das Präsidialamt beklagte, die Opposition habe »nur zum Schein« einen Gewaltverzicht verhandelt und die Radikalen hätten tödliche Waffen eingesetzt. Oppositionsführer und Präsident Viktor Janukowitsch hatten sich erst in der Nacht auf einen Waffenstillstand geeinigt. Weitere Verhandlungen seien vereinbart worden, »um das Blutvergießen zu beenden und die Lage im Land zu stabilisieren«, hieß es noch am Mittwoch.

Heckenschützen hätten am Donnerstagmorgen vermutlich vom Dach des Konservatoriums Milizionäre und Angehörige der Sondereinheit Berkut beschossen, teilte dann aber das Innenministerium mit. Später wurde von mehreren toten Angehörigen der Ordnungskräfte und Dutzenden Verletzten gesprochen. Mehrere Angehörige der Ordnungskräfte seien verschleppt worden.

Von Scharfschützen, die aus umliegenden Häusern allerdings auf die Demonstranten geschossen hätten, berichteten hingegen der Opposition nahestehende Ärzte. Mehrere Todesopfer seien nur von einer einzigen Kugel getroffen worden, sagte der Mediziner Dmitro Kaschin Interfax. AFP-Reporter zählten rund um den Maidan mindestens 25 Tote, die teilweise Schusswunden aufwiesen.

Der amtierende Innenminister Witali Sachartschenko erklärte am Nachmittag: »Auf den Straßen sterben nicht nur Ordnungskräfte, sondern auch friedliche Bürger. In Kiew und westlichen Regionen brachen Progrome aus.« Er forderte »Extremisten« zur freiwilligen Abgabe ihrer Waffen auf.

Am Nachmittag war das Regierungsviertel offenbar abgeriegelt: Keine Menschen, keine Autos, berichteten örtliche Medien. Am Morgen war die Räumung der Obersten Rada von Abgeordneten und Mitarbeitern angeordnet worden. Am Nachmittag versuchte das ukrainische Parlament eine Sondersitzung zur »Rettung des Landes«. Gegen 17 Uhr Ortszeit begann die Registrierung der Abgeordneten. Das Gebäude war abgeriegelt mit Polizeifahrzeugen und Schützenpanzerwagen. Aufgefahren wurde ein Wasserwerfer.

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