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Stückfremder Aufputz

»Die Ratten« in Halle und in München

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Geschichte von der Frau John, die dem Dienstmädchen Pauline das neugeborene Kind entwendet und nach deren Rückforderung des Kindes in tragisch endende Verwicklungen gerät, ist in der letzten Spielzeit an insgesamt neun deutschen Bühnen, darunter an großen Häusern gespielt worden. Gerhart Hauptmanns »Die Ratten« - offensichtlich ist das Stück selten so aktuell gewesen. Wer dächte bei Paulines Aussichtslosigkeit, das Kind ernähren zu können, nicht an die griechischen Mütter, die ihre Kinder aus Armutsgründen an die SOS-Kinderdörfer abgeben und bei Frau Johns unrechtmäßigem Erwerb des Kindes nicht an Promifrauen wie Madonna, die mit allerlei Tricks afrikanische Kinder adoptieren.

Hinzu kommt, dass die 1911 uraufgeführten »Ratten« die prekäre Lebenssituation der Unterschicht anfangs des 20. Jahrhunderts mit der Welt des Theaters verbinden, das soziale Drama mit seiner realistischen oder unrealistischen Darstellung. Diesen Aspekt haben die Inszenierungen am Bayerischen Staatsschauspiel München und am Neuen Theater Halle absichtsvoll ins Zentrum gerückt. In München hat es der griechische Regisseur Houvardas bewusst vermieden, die soziale Tragödie in seinem Heimatland aufscheinen zu lassen und dagegen auf ertüftelte und stückfremde Kunstlösungen zurückgegriffen. Eine lustige Person mit pausbäckigem Wachskopf ging da durch die Inszenierung, machte sich am Klavier zu schaffen und schlug mit seinen Tönen den Nerv der folgenden Szene an. Es wurde gestottert, gewitzelt und ungehemmt dem Affen Zucker gegeben, ohne dass die Geschichte zwingend befördert worden wäre.

In Henriette Hörnigks Hallenser Inszenierung wird der Disput über das gegenwärtige und vergangene Theater, seine Möglichkeiten und Gefährdungen, zum abendfüllenden Mittelpunkt des Unternehmens. Am Anfang steht der Extheaterdirektor Hassenreuther zusammen mit einer Person im roten Maßanzug, die sich später in den Hausmeister Quaquaro verwandeln wird, vorn an der Rampe. Beide streiten sich, wie des Direktors Bekenntnis »Alles, was ich in mir trage, will ich euch zeigen« am glaubwürdigsten zum Ausdruck gebracht werden kann.

Die Sprecherziehung an deutschen Schauspielschulen und die Gebrüder Wepper mit ihrer unterschiedliche Haltung zum Verhältnis von Kunst und Kommerz kommen zur Sprache. Die von der Tonkonserve eingespielte Rede zur Wiedereröffnung des Deutschen Theaters geht über in eine Rede Hassenreuthers ans Ensemble. Dessen Einübung der Chöre von »Die Braut von Messina« ist gestrichen, von seinen lauthals verkündeten Regeln der Schauspielkunst ist nur der Appell geblieben, nicht zu lispeln und die Funktion des Punkts zu beachten. Dafür wird Heiner Müllers Text vom »Theatertod« von der gesamten Spieltruppe als einer stampfenden, kriechenden und aufbegehrenden Masse vorgetragen und gegen Ende hin kommt Rosanows Alptraum zur Sprache, demzufolge die Schauspieler aus der Garderobe und damit das Leben aus der Stadt verschwunden sind. Wenn sich dann noch der seltsame Herr im roten Maßanzug in eine wahre Neidorgie steigert - auf die Frauen, die sich an die ersten Häuser »hochschlafen« und auf die »Wuttke-Truppe«, die die Bühne in Neuhardenberg in Besitz genommen habe - dann steht das von Hauptmann kunstvoll ausbalancierte Verhältnis von Sozialdrama und Theaterwelt endgültig auf dem Kopf.

Vom Bühnenbild her (Charlotta Burchard) ist aus dem Berliner Mietshaus eine abstrakte Konstruktion von Treppen, Schrägen, Podesten und Traversen geworden. Darauf hüpfen und überschlagen sich die Theaterfiguren gleich welchen Standes. Einzig ein riesiger Haufen von Theaterkostümen und Straßenkleidern auf dem Podest in der Mitte liefert so etwas wie einen konkreten Hinweis auf Zeit und Ort. Von der sozial verorteten Zeichnung existentieller Konflikte wandelt sich die Spielweise in eine grelle, akrobatisch ausgeturnte Zurschaustellung von Macken und Gebrechen. Petra Ehlert als Frau Knobbe liefert die »Gewittercharge« einer Dame, die bessere Tage gesehen hat, Elke Richter als Frau Hassenreuther stolpert lallelnd und dauerbetrunken über die Bühne, und der Kandidat Spitta (Alexander Pensel) kotzt sich, die Treppe herabgleitend, die Seele aus dem Leibe.

Ein Aufatmen dann, wenn es zwischen Frau John (Bettina Schneider) und Pauline (Anne Lebinsky) tatsächlich ums Leben geht, wenn die John alle Register des Verschleierns, des Einschmeichelns und des Drohens zieht. Überzeugend auch Matthias Brenner als Hassenreuther. Er, der in Wirklichkeit der Hallenser Theaterdirektor ist, spielt nicht in erster Linie den abgehalfterten und hohltönenden Barden, als den ihn Generationen von Schauspielern gespielt haben, sondern den mitfühlenden und streitbaren Sachwalter des Theaters gegen die Nachstellungen des gesellschaftlichen Umfelds. Insgesamt aber droht - wie in München - die berührende Geschichte von Getretenen und Beladenen durch stückfremden Aufputz erstickt zu werden.

Nächste Vorstellungen im Neuen Theater Halle: 28.2. und 1.3., im Münchner Residenztheater am 28.2. und 11.3.

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