Experiment gegen Hamburger Rituale

Neue DGB-Chefin über soziale Gegensätze, Arbeitsverdichtung und die »Ü50-Gewerkschaft«

  • Lesedauer: 4 Min.
Mit 44 Jahren ist Katja Karger nicht nur die jüngste, sondern sie auch die erste Frau an der Spitze der Hamburger Gewerkschaften. 2001 hatte die gelernte Industriekauffrau bei »Pixelpark« den ersten Betriebsrat der »New Economy« gegründet, war wenig später zum ver.di-Projekt »connex.av« gewechselt. Nach ihrem Studium der Philosophie und Kulturwissenschaften bewarb sie sich aus der Arbeitslosigkeit heraus für den Vorsitz des DGB. Mit ihr sprach für »nd« Olaf Harning.

nd: Frau Karger, Ende letzten Jahres wurden Sie an die Spitze der Hamburger Gewerkschaften gewählt - als erste Frau, als erste ohne SPD-Parteibuch und auch so jung war bislang noch niemand in Ihrem Amt. Was ist da passiert?
Karger: Ich würde es eher andersherum formulieren: Genau das alles waren Gründe, die eher für mich sprachen als gegen mich. Überall, wo ich auftauche, sind die Leute genau darüber begeistert: Dass ich jung bin, dass ich eine Frau bin und nicht zur SPD gehöre. Also muss auch irgendwas dran sein. Und was dabei gerne übersehen wird: Ich kann ja auch was, das war ja durchaus auch eine Entscheidung für eine Qualifikation.

Sie sind gebürtige Bremerin, haben lange in Berlin gelebt. Was sind Ihre Eindrücke von Hamburg, das Sie kürzlich einmal die »Hauptstadt der Leiharbeiter« nannten?
Es gibt Dinge, die merkt man immer erst, wenn man eine Vergleichsfolie hat, und meine »Vergleichsfolie Berlin« heißt: »Ich bin arm, aber sexy«. Das ist das, was mir an Hamburg am ehesten auffällt, dass hier die Unterschiede sehr viel augenfälliger sind, dass die Kontraste zwischen Arm und Reich sehr viel brutaler zutage treten. Auf der einen Seite herrscht eine Porsche-Dichte, die ist wirklich unfassbar, und gleichzeitig haben wir rund um den Hauptbahnhof, wo ja mein Büro ist, unglaublich viel Armut, viele Bettler. Und mir fällt auf, dass es eine ganz andere Einmischungskultur gibt, ein »Wir wollen Teil der Stadt sein!«. Das ist etwas, das in Berlin eigentlich nicht mehr existiert.

Welche großen »gewerkschaftlichen Baustellen« sehen Sie in der Hansestadt?
Die Leiharbeit ist mit Sicherheit ein Thema - und was damit zusammenhängt: die Überbelastung. Wenn Sigmar Gabriel heute verkündet, wir werden viele Arbeitsplätze bekommen, werden wir als Gewerkschaft viel damit zu tun haben, auf die Qualität dieser Arbeitsplätze zu gucken. Die meisten Menschen arbeiten heute für mindestens eineinhalb oder zwei Personen, das heißt: Sie sind überlastet, sie sind ausgebrannt, sie sind fertig. Wir haben in Hamburg den größten Krankenstand, was psychische Belastungen angeht, dafür gibt es einen Grund. Und das zweite ist natürlich das Projekt soziale Stadt, dass Hamburg nicht auseinanderbricht an Armut und Reichtum, sondern wieder zusammenwächst.

Eines Ihrer ersten Projekte in Hamburg war und ist, das Ritual des 1. Mai umzukrempeln. Warum? Und wie?
Ich bin etwas vorsichtig mit den starken Begriffen. »Umkrempeln« würde ich das jetzt nicht nennen. Wir müssen uns aber fragen: Für wen machen wir eigentlich diesen 1. Mai? Die wesentliche Neuerung ist, dass unser Fest viel dialogischer, mitgliederbezogener gestaltet sein wird. Wir wollen keine Drei-Stunden-Reden mehr, wo oben auf der Bühne jemand steht und redet und unten das Publikum ist, das irgendwie aufnehmen muss. Und meistens tut es das ja nicht, wenn wir ehrlich sind. Ich glaube, dass wir uns als Gewerkschaft am 1. Mai wieder anders mit den Leuten unterhalten müssen.

2001 beschrieben Sie Ihre Wahrnehmung von Gewerkschaftsstrukturen einmal als »Ü50 und männlich«. Hat sich dieser Eindruck verfestigt oder ist das Bild heute differenzierter?
(Lacht) Differenzierter! Zum einen ist natürlich ein großer Bereich der Gewerkschaften - so wie die meisten Unternehmen auch - männlich geprägt. Und dadurch, dass wir eine alternde Gesellschaft haben, sind viele Menschen, die heute arbeiten, auch schon älter. Aber die Gewerkschaften arbeiten seit zehn Jahren an ihrer Frauenquote, haben eine ganz andere Förderung etabliert - ich meine, ich bin doch der beste Beweis, dass inzwischen ein paar Dinge anders laufen. Auf der anderen Seite will ich verhindern, dass der eine gegen die andere ausgespielt wird: Wir brauchen natürlich auch Menschen, die männlich sind, die erfahren sind und uns ihr Wissen weitergeben. Es geht um die Gemeinsamkeit!

Nach Ihrer Wahl sprachen Sie von einem »Experiment«, das der DGB mit Ihnen wagt. Würden Sie heute noch einmal an diesem Experiment teilnehmen?
Fragen Sie mich nach dem 1. Mai noch mal, bis dahin habe ich noch eine Art Schonfrist (lacht). Der Job ist bei weitem komplexer, verantwortungsvoller und interessanter, als ich erwartet hatte. Aber er hat eben auch eine Menge Gewicht. Wir werden sehen!

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