Renaissance des Antifaschismus in Russland?

Mehrheit der russischen Bevölkerung sorgt sich um das Schicksal der Landsleute in der Ukraine, doch Kriegsbegeisterung gibt es in Moskau nicht

  • Ulrich Heyden, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
»Weil es keinen Krieg gibt, sind Hurrapatrioten enttäuscht, Liberale böse und alle anderen erleichtert.« Was der linke Moskauer Politologe Boris Kagarlitzki sagt, klingt übertrieben, hat aber einen wahren Kern.

Dass auf der Krim russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen im Einsatz sind, zieht in Russland niemand in Zweifel, auch wenn der Kreml offiziell keine Verantwortung übernimmt und von »Selbstschutzkräften« spricht. Gegen den Einsatz der Soldaten gibt es in der Mehrheit der Bevölkerung keinen Widerspruch. Auf der Krim leben eben vorwiegend Russen, um die man sich angesichts einer nationalistischen Regierung in Kiew sorgt.

Auch für den Vorsitzenden der KP der Russischen Föderation, Gennadi Sjuganow, sind die russischen Soldaten eine Art Friedenstruppe. Gegenüber dem Fernsehkanal »Vesti« erklärte er: »Russland ist in der Lage, die Bewaffnung der Bürger auf der Krim und den östlichen Gebieten der Ukraine zu verhindern.« Gerade jetzt brauche man »Willen und Mut«, damit die Situation in der Ukraine »sich nicht zu einem Krieg entwickelt«.

Eine ganz andere Position beziehen Moskaus westfreundliche Liberale. In einem per Internet verbreiteten Aufruf zu Demonstrationen vor dem Verteidigungsministerium und auf dem Manege-Platz hieß es: »Eine Militärintervention in der Ukraine führt tatsächlich zum dritten Weltkrieg.« Russen und Ukrainer seien nichts weiter als »Faustpfänder in der Hand von Verbrechern«. An den nicht genehmigten Protesten nahmen am vergangenen Sonntag 800 Menschen teil. 361 - von denen einige die Hymne der Ukraine gesungen hatten - wurden von der Polizei vorübergehend festgenommen, berichtete die liberale Website ovdinfo.org.

Dass die Moskauer Liberalen eine Weltkriegsgefahr beschwören, ist für Boris Kagarlitzki nichts anderes als »Hysterie«. Die Liberalen, die jetzt »besonders laut von der Kriegsgefahr schreien«, hätten »noch gestern jede amerikanische Intervention in beliebigen Regionen der Welt unterstützt«. Für die Linke sei es eine prinzipielle Position, dass man gegen jede ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine auftrete, »egal ob von Seiten der NATO, Russlands oder der EU«. Da die Regierung in Kiew die vielen bewaffneten Gruppen nicht kontrolliere, drohe ein Krieg »jeder gegen jeden«. Ein Chaos könne nur verhindert werden, »wenn Russland und der Westen eine gemeinsame Lösung finden«.

Und was machen linke Gruppen in Russland? Am 27. Februar bildeten 23 linke Organisationen - von der KPRF-Abspaltung »Interregionale Vereinigung der Kommunisten« über die »Bewegung der Kommunarden« bis zur »Linken Front« - einen »Antifaschistischen Stab zur Hilfe für die Ukraine«. Dessen Ziel ist es, Solidarität für die verfolgten ukrainischen Linken zu organisieren. KPU-Büros wurden von rechten Schlägern verwüstet, linke Aktivisten auf dem Maidan von Rechten zusammengeschlagen. Schuld an der Krise in der Ukraine sind nach Meinung der russischen Linksorganisationen sowohl die Politik unter Viktor Janukowitsch als auch die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise. Beide hätten zu »unerträglichen Lebensbedingungen« geführt. Die plötzliche Absage an die EU-Assoziierung habe den massenhaften Protest dann ausgelöst. »Am besten vorbereitet auf den Protest waren die nationalistischen Bewegungen.« Doch weder »der westliche noch der russische Imperialismus« hätten »echtes Mitgefühl« mit den Menschen und nutzten deren Situation nur für sich aus, heißt es in der Erklärung.

Alexej Simojanow, Moskauer Politologe und Mitarbeiter des Instituts für Globalisierung und soziale Bewegungen, hält die ukrainische und die russische Linke für »demoralisiert« angesichts des Anwachsens des Nationalismus in beiden Ländern. Doch die Ereignisse in der Ukraine eröffnen nach seiner Meinung neue Perspektiven für den Antifaschismus in Russland. Die Bilder der faschistischen Banden in Kiew, »die von ihrer ethnischen Überlegenheit überzeugt sind«, stoßen heute auch auf Ablehnung bei einem »bedeutenden Teil der Intellektuellen und Zeitgenossen in Russland«.

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