Wider die Vorurteile

Wilfried Loth über die schwierige europäische Einigung

  • Dominic Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.

Der stellvertretende Ministerpräsident Brandenburgs und Ex-Europaabgeordnete Helmuth Markov von der LINKEN merkte am Rande eines Landesparteitages seiner Partei Anfang des Jahres an, die Europäische Union sei das beste Beispiel für Marxsche Dialektik: »Sie ist gut und sie ist nicht gut. Sie ist demokratisch und hat ein Demokratiedefizit. Sie ist sozial, aber bei weitem nicht sozial genug.«

Grund dafür mag sein, dass die Europäische Union ein vielschichtiges System darstellt. Aufgespalten zwischen Supranationalität und Intergovernementalität, zersplittert und zugleich geeint, belastet und bereichert durch durch unzählige regionale Eigen- und Besonderheiten. Dies verführt den ungelernten Betrachter, allzu oft auch den geübten homo politicus, dem vermeintlichen Wirrwarr mit Schlichtheit zu begegnen. Dem Komplexen wird das Banale entgegengehalten. Die verflochtenen europäischen Institutionen sehen sich mit vereinfachter wie verkürzter Ablehnung konfrontiert. Das mag der Sache nicht gerecht werden, in der Politik ist Fairness leider keine Norm.

Wilfried Loth ist kein Politiker, sondern Wissenschaftler. Rechtzeitig zum Europa-Wahlkampf legt der Historiker ein bemerkenswertes Buch vor: eine Geschichte der europäischen Einigung, in deren Mittelpunkt die Interessenkonflikte europäischer Staaten und Regierungen sowie deren Folgen für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Politik stehen. Nebenbei widerlegt er Vorurteile platter politischer Agitation. Etwa wenn er erwähnt, dass die knapp 22 000 Beamten in der Europäischen Kommission bei weitem nicht ausreichen würden, um die Verwaltung der Stadt Köln am Leben zu erhalten. Oder wenn er vorrechnet, dass das subjektive Empfinden der Bürger, einem »Teuro« ausgeliefert worden zu sein, täuscht. Wohltuend ist, dass in diesem Buch mal nichts über die Krümmung der Gurke zu lesen ist.

Der Autor erinnert an die Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Kalten Krieg, im Spannungsverhältnis zwischen den sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges herausbildenden Supermächten und Blöcken. Seine Erzählung europäischer Geschichte erfasst Gemeinsamkeiten und Unterschiede, berichtet von Förderern und Blockierern europäischer Kooperation. Loth beschränkt sich nicht, wie so viele andere Abhandlungen und politische Debatten, auf eine Beschreibung des Zustands einzelner EU-Institutionen. Sein Fokus liegt auf der Benennung von Interessen, auf der Darstellung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten unter europäischen Partnern und den Problemen bei der Herausbildung eines gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Subjekts auf dem Kontinent. Dabei greift er auf eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten, Reden und Verträgen zurück. Hier findet sich eine Zusammenstellung persönlicher Ansichten, Aussagen und Schriften von Winston Churchill bis José Barroso. Besonders spannend sind die Protokolle von Debatten in Hinterzimmern. Und höchst aufschlussreich ist die Definition von Kompromissen in den sechs Dekaden europäischer Einigung.

Es wird deutlich, dass ohne die Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Politik die Nationalstaaten Europas kaum zu einer Modernisierung ihrer Gesellschaften und Subsysteme im Zeitalter einer sich verdichtenden Globalisierung fähig gewesen wären. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass die Europäische Union so lange nicht reformfähig sein wird, so lange deren Mitgliedsstaaten nicht bereit sind, sich selbst Reformen zu unterwerfen.

Loth widerspricht einer vielerorts in Europa neopopulären Rückbesinnung auf den Nationalstaat und schreibt: »Es gibt keinen plausiblen Beleg für die Behauptung von Ralf Dahrendorf aus dem Jahr 1994, allein der Nationalstaat sei imstande, tiefere Bindungen der gesellschaftlichen Kräfte zu schaffen«. Zugleich kritisiert der renommierte Historiker jedoch die »bisherige institutionelle Entwicklung der EU, welche auf technokratischem Wege und ohne breite gesellschaftliche Diskussion und nachhaltige Identifizierung der Bürger der EU mit ihren Institutionen« erfolgt sei.

Und so bleibt denn auch die Geschichte der europäischen Einigung eine unvollendete - nach Überzeugung von Wilfried Loth ist sie aber keineswegs eine gescheiterte.

Wilfried Loth: Europas Einigung. Eine unvollen-dete Geschichte. Campus. 512 S., geb., 39,90€.

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