Plädoyer für ein linkes Crossover

Tom Strohschneider diskutiert Rot-Rot-Grün, politische Bündnisse und Hegemonie

  • André Brie
  • Lesedauer: 4 Min.

Diese sehr lesbare Broschüre hat ein Journalist, Zeitungsmacher, ein Nachdenklicher, Informierter, Linker geschrieben. Herausgekommen ist ein kenntnis-, tatsachen- und meinungsreiches Buch. Selten hat ein solcher Text gerade unter diesem Gesichtspunkt auch verdient, eine Flugschrift genannt zu werden - so wie nicht selten in der Vergangenheit bewegte Meinungsäußerungen sich dieses Begriffes bedient haben.

Mit einem Fragezeichen hat Tom Strohschneider, Chefredakteur des »neuen deutschland«, zu Recht sein Buch über eine linke Mehrheit, über Rot-Rot-Grün, politische Bündnisse und Hegemonie, überschrieben. Er beschreibt, zitiert und analysiert, dass die aktuelle Gesellschaft und Politik eigentlich eine entschiedene Alternative verlangen. Doch eines der Kapitel wird auch mit »Gute Gründe, große Skepsis« getitelt. Wenn man dort liest, dass der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz dem damals neuen französischen Präsidenten 2012 mit den Worten gratulierten, sein Wahlsieg »könnte der Glanz anderer Politik in Krisenzeiten … abstrahlen«, wird - wie in vielen Teilen dieser Schrift - mit journalistischer Schärfe klar, dass es eine noch immer unüberbrückte Kluft zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit einerseits und platter Realität andererseits gibt. Der Abschnitt »Gefesselt auf dem Boden kommender Tatsachen« belegt empirisch und gedanklich genau diesen Gegensatz.

Man muss Strohschneider nicht in allen Fällen folgen. Das will er auch nicht. Er erwartet und ermöglicht im Gegenteil selbstbewusste, nachfragende und selbst denkende Leserinnen und Leser. Gerade das macht die Stärke und Besonderheit seiner Darstellung aus. Im Übrigen ist es eben nicht einfach eine Darstellung. Wer sich informieren möchte über die Probleme, die Entwicklungen und Widersprüche der Auseinandersetzungen über eine linke Mehrheit und eine andere Politik, findet hier zahlreiche Fakten, Hinweise und Quellen zu den politischen Bedingungen und den Akteuren ebenso wie die klugen Fragen und Meinungen des Autors.

Wer sich über die Geschichte eines linken Crossover, seine Schwierigkeiten und Ergebnisse informieren möchte, kann es hier auf wenigen Seiten mit Gewinn tun. Strohschneider schätzt auch die Bemühungen des Crossover-Versuchs und seine Resultate zwischen Mitgliedern der damaligen PDS, der Grünen und der SPD in den Neunziger Jahren trotz ihres Scheiterns oder Aufgabe positiv ein, wenn er meint, dass die »Ziele, die seinerzeit formuliert wurden weiter aktuell« seien. Bei den Zielen, die er zusammenfasst, erwähnt er allerdings die damals wie heute besonders wichtigen Fragen der Re-Politisierung von Gesellschaft und der Erneuerung von Demokratie nicht. Unter diesem Gesichtspunkt hätte ich mir auch gewünscht, wenn er sich der Frage zugewandt hätte, warum die zeitweilige strukturelle linke Mehrheit in der Bundesrepublik inzwischen praktisch verloren gegangen ist.

Dass es im Bundestag noch eine schwache quantitative Mehrheit für SPD, Linke und Grüne gegeben hätte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es mit dem Einzug von FDP und AfD bereits heute eine deutliche konservativ-rechte Mehrheit gegeben hätte. Vor allem aber, dass auch gesellschaftlich ein alternatives oder gar linkes Bündnis eine wesentlich geringere Wählerakzeptanz (gemessen an Wahlergebnissen, nicht an politisch-kultureller Zustimmung) hätte als noch vor zehn Jahren.

»Linksreformerisches Denken heißt, über den Tellerrand der gegenwärtigen Debatten hinaus zu blicken«, schreibt Strohschneider im letzten Kapitel. Wie in vielen anderen Aussagen gibt er Anregungen und fordert heraus. Dass dies nicht nur eine inhaltliche Aufforderung an die SPD, die Grünen, Die Linke, Gewerkschaften, Bewegungen ist, sondern auch eine entsprechende politische Kultur verlangt, lässt die »Flugschrift« immer wieder deutlich werden.

Ein Rezept, eine konkrete Lösung will der Autor nicht geben. Es wäre auch falsch gewesen. Sie müssen anderswo und vor allem in der Gesellschaft insgesamt gefunden werden. Eine linke oder politisch alternative Mehrheit kann ohnehin nicht auf die Parteien und ein Regierungsprojekt reduziert werden. Daran lässt Strohschneider keinen Zweifel. Das größte Problem - womit er sich hier nicht beschäftigte, aber das trifft auch auf die Parteien, sozialen Verbände und politischen Bewegungen oder die Kirchen zu - scheint mir zu sein, dass selbst und insbesondere viele jener, die besonders negativ von der herrschenden Politik betroffen sind, längst aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind oder sich nicht selten selbst aus der Politik und Wahlen ausgeschlossen haben.

Dass eine Mehrheit und eine gesellschaftliche Alternative nicht einfach für, aber ohne sie, erreicht werden kann und darf, wird wohl weit mehr noch als politisch-programmatische Fragen zur Herausforderung werden. Für die herrschende marktradikale Politik stellt sie offensichtlich kein Problem dar, obwohl die Exklusion von Millionen Menschen längst auch zur Bedrohung für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhang geworden ist. Machtpolitik kann von ihr sogar gewinnen. Für eine linke Mehrheit allerdings muss gerade dieses große, nicht zu leugnende Problem zu einem zentralen Thema und überhaupt zu einer Voraussetzung politischer Arbeit werden. Dieses Büchlein jedenfalls kann auch dazu anregen. Mich jedenfalls hat es.

Tom Strohschneider: Linke Mehrheit? Über rot-grün-rot, politische Bündnisse und Hegemonie. VSA- Verlag. 96 S., br., 9,80 €.

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