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Söhne, Väter, Opfer, Täter …

David Gilbert über Löwen der Literatur und Versager im Heim

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Dies ist ein dicker Roman mit nicht immer stimmiger Fabel in oft betörender Sprache über ein ewiges Thema: Wie kommen wir durchs Leben, was macht es aus uns? David Gilberts zweiter Roman (Debüt 2005: »Die Normalen«) hat in der deutschen Erstausgabe einen passenden Titel; das amerikanische Original »& Sons« (… und Söhne) weist in knappster Form ebenfalls auf Generationenfragen. Auf Wachsen und Verzweigen des Stammbaums ebenso wie auf Verkrümmung, Verkümmerung oder Abbruch ganzer Lebenslinien.

Wie so häufig in der US-Belletristik wird auch dieses Buch des 46-Jährigen aus begütertem Haus (Vater: Investmentbanker) mal wieder als ultimativer New-York-Roman angehypt. Doch für den Leser von größerem Belang als stadtgeo- und -biografische Bezüge sind die ortsunabhängigen Fragen des Zusammenlebens von Menschen im Verlaufe eines Daseins, das nur selten frühen Entwürfen und Erwartungen entspricht. »Was heißt schon Glück? Ich persönlich misstraue glücklichen Erwachsenen«, bilanziert im Schlussdrittel Andrew Dyer, die inzwischen 79 Jahre alte Hauptfigur von Gilberts Roman. A. N. Dyer ist eine Art Großschriftsteller vom Status J. D. Salingers. Er hat mit 27 »Ampersand« veröffentlicht, den Pulitzer-Preis erhalten und erleben dürfen, wie das Buch, vergleichbar »Der Fänger im Roggen«, zum Kultbuch wurde, das heute in keinem Lehrplan fehlt.

Zahlreiche Romane Dyers sind danach entstanden, manche gefeiert, keines wie »Ampersand«. Auch der Star, der sich seit Jahren hinter seiner Schreibmaschine verschanzt, aber um Frau und Söhne Richard und Jamie nie gekümmert hat, macht in Momenten der Selbstabrechnung harte Schnitte: »Dann schließe ich mich doch lieber in meinem Zimmer ein, konzentriere mich auf meine Arbeit und hoffe, dadurch meine durch und durch beschissene Existenz zu rechtfertigen. Ich bin ein beschissener Vater. Ich war ein beschissener Ehemann. Und ein beschissener Freund. Das Schreiben war nur ein Alibi.«

Gilberts Roman liest sich mit Vergnügen, obwohl der Plot manchmal gestellt wirkt: Das Vater-Sohn-Thema ist ja keine Erfindung von Gilbert. Aber wie er damit umgeht und darin mehr als einmal an Jonathan Franzens wunderbaren Familienroman »Die Korrekturen« erinnert, erzeugt so viel Leserbindung und Erkenntnisgewinn, wie sie bei einem Quasi-Debütanten nicht selbstverständlich sind.

Der Roman spielt an wenigen Tagen in New York, wo sich Dyers verstreute und entfremdete Familie zusammenfindet, weil es ihm gar nicht gut geht. Der Augenblick, in dem der Alte seinen ältesten, einst drogenkranken Sohn Richard samt Familie und den zweitgeborenen Jamie, einen umgänglichen, etwas orientierungslosen Dokumentarfilmer, begrüßt, um sie mit dem dritten Sohn, dem 17-jährigen, aus einem Seitensprung hervorgegangenen Andy bekanntzumachen, vermittelt Gilberts Begabung der Beobachtung und Beschreibung: »Dann kam Andrew schlurfend in Sicht ... Wir alle neigten uns nach vorn, als suchten wir nach Seilen, um ihn vorwärts zu ziehen. Er hob die Hand zu einem ersten Gruß, als ein letzter Hustenanfall ihn erschütterte, gefolgt von einem ekligen Schlucken. Jetzt erblickten wir sein Gesicht. Er musste sich rasiert haben oder besser: versucht haben, sich zu rasieren. Fetzen von Toilettenpapier klebten an Wangen, Kinn und Unterkiefer. Mit seinem blutigen Bart sah er aus wie ein toter Weihnachtsmann. Nur das Zwinkern in seinen Augen verriet, dass er noch nicht ganz ausgeblutet war.«

Der 79-jährige Löwe lässt nichts mehr von den jugendlichen Triumphen erkennen, dafür umso mehr die für alle drängenden, nie schlüssig zu beantwortenden Fragen ahnen: Was wird bloß aus uns? Auf die Frage, was Männer wollen, heißt es oft: Sex und Geld, Macht und Ruhm. Die Grantigkeit des Alten erleichtert das Gespräch nicht gerade, erinnert die Familienmitglieder eher daran, »dass sie im Grunde eine Ansammlung von Fremden mit wenigen Gemeinsamkeiten sind«. Doch Richard, Jamie und Nachzügler Andy spüren dahinter auch den Wunsch ihres Vaters nach Entschuldigung und Vergebung. Oder wie David Gilbert mit Blick auf das älteste seiner drei Kinder sagt: Ich rechne täglich damit, dass der Zwölfjährige statt »Mein Dad arbeitet wirklich hart« urteilt: »Ich finde nicht, dass mein Vater überhaupt arbeitet.«

David Gilbert: Was aus uns wird. Roman. A. d. Am. v. Stefanie Schäfer. Eichborn Verlag. 639 S., geb., 22,99 €.

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