Tut was, Verdammte! Verdammt, was tun?

Im Lutherhaus von Wittenberg: Friedrich Schorlemmer und Friedrich Dieckmann über Luther, Marx, Engels

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Diesen Hof betrittst du nicht. Du fühlst dich ein. Der Schritt will nicht in erster Linie kräftig werden, sondern eine Entsprechung. Als gingest du nicht, sondern die Sohlen staunten gleichsam das Pflaster an, das sie berühren. Lutherhaus. Lutherhof. Lutherstadt Wittenberg. Überhaupt: Luther. Hier, an seinem Ort. Atme ein!

Vorm Refektorium des Lutherhauses ein Menschenstau. Nervosität, wie sie vor überfüllten Räumen sich bildet, in die Viele noch hinein wollen. Ehrfurchtsarchitektur unter Säulenbögen. An einer der Stirnwände eine Gestalt mit erhobenem Kreuz, an der anderen Stirnwand Reproduktionen: Die-Zehn-Gebote-Tafel von Lucas Cranach dem Älteren; die Befolgung eines jeden Gebots ist bildlich verknüpft mit dessen Verletzung - denn: Kein Mensch ist eindeutig. Du darfst auf Cranachs böse Sünder schauen und entdecken: Kaum haben die ihr Gesicht verloren, haben sie - meines. Jetzt müsste aufrichtend Musik her. Und sie kommt. Vom laufenden Band. Laut. Lodernd. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde!« Die »Internationale.« Hier? Und die Apparatur streikt nicht? Nein. Weltpremiere im Lutherhaus. Erlösung? Gern!, wuchtet die proletarische Hymne: Greift zu den Waffen! O Gott. Thema des Abends: ein Dreierporträt - Luther, Marx und Engels.

Herein die Protagonisten. Friedrich Schorlemmer, Friedrich Dieckmann. Mit Transparent: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« Ein Satz von Lenin - den Schorlemmer einen »Möchtegern-Philosophen« nennen wird. Die Entfaltung des Spruchbandes vor der Zuhörerschaft: eine unfreiwillige Verhedderungsübung - so wie sich der Marxismus-Leninismus in der Wirklichkeit verhedderte. Friedrich & Friedrich, das lustige Duo. Dann aber wird’s heiter, also fordernd intelligent.

»Wacht auf, Verdammte dieser Erde!« Das stimme nach wie vor, ruft Schorlemmer. Er wird über Marx reden, wie man für einen großen Geist zu werben hat. Inständig. So redet ein Christ über einen Atheisten. Umgekehrt vorstellbar? Zu Zeiten der atheistischen Macht auf deutschen Halbboden galten Christen hauptsächlich als kalkuliert hin- und her gerückte Figuren auf dem Schachbrett der Bündnispolitik. Arroganz gegenüber Gläubigen hat die Arbeiterbewegung, auch als sie längst schon eine politische Bewegungslosigkeit war, nie ablegen können. Bündnis: ein Wort, das von oben kam. Obwohl man behauptete, die Idee käme von unten auf.

Dichter wollte er werden, dieser Marx. Welch frühes Pathos, sagt Schorlemmer, das auf Erlösung gezielt habe! Aus dem Poeten sei dann der Philosoph geworden. Dieckmann wird ein Marx-Gedicht zitieren, das erzählt, was dem Trierer Tat-Beseelten zu tun blieb, da es zum Schriftsteller nicht reichte: »Welten selber stark zerstören,/ Weil ich keine schaffen kann,/ Weil sie meinen Ruf nicht hören,/ Stummgekreist im Zauberbann.« Das sei sie, die ewige Lebensproblematik: Kraft der Sprache, Ohnmacht der Sprache; Kühnheit der Analyse, aber kein Durchbruch ins ersehnte wahre Schöpfertum, in die Kunst. Nun, die große kühne Kunst seines gesellschaftlichen Durchblicks würde Folgen haben, darin sich Weltenzerstörung und Weltenschaffung so befreiend wie verhängnisvoll vermengten.

Es ist ein laut denkender Abend über die Möglichkeiten, Gesellschaften zu verändern: Wo Luther den Güte- und Gerechtigkeitsnerv im jeweils Einzelnen anrührte und aufs Ganze zielte, so Schorlemmer, da habe Marx aufs Ganze gezielt, aber keinen Blick für die kompliziert gebrochene Menschennatur gehabt. Denn zu unserer Grundausstattung gehört: Jeder tut dem anderen alles an, was er ihm, ohne dafür bezahlen zu müssen, antun kann. Ohne dass man uns ein strafendes Gewissen einbaut, können wir meist nicht gut sein.

Wo Luther Christus sagte, rief Marx: Prometheus! Immer wieder wird Schorlemmer Marx lesen und Luther lesen, und es ist wahre Beseelung: Sprache schlägt sich auf die Seite der Niederen, sie schlägt wunderbare Bögen, sie schlägt zu. Perlen der Polemik, geworfen vor die Säue der Gier und des Geldes und des Gifts der Ungerechtigkeit, dass die dran ersticken mögen. Persönlichkeitsprofile in den Fesseln und Forderungen ihrer jeweiligen Zeit, aber doch gemeinsame Bilanzen: dass jede Gemeinschaft nur durch gemeinsame Verantwortung aller zur Bindungskraft gelange; also - Abkehr vom Luxus der Wenigen; Bescheidung der Bedürfnisse; Geschäfte mit kontrolliertem Eigennutz; Aufwertung der Werktätigkeit als Garant der Würde - Luther bezeichnete die Arbeit als besten Gottesdienst und plädierte gleichsam für Wegelagerer als Überfallkommando gegen Wucherer. Hieß das später RAF?

Biografien des Denkens: Schorlemmer porträtiert Luther und Marx, Dieckmann Engels. Fängt mit einem Witz an. Da war ein Aserbaidshaner, der wird nach Besuch der Moskauer Parteischule gefragt, was er gelernt habe. Antwort: dass Marx und Engels zwei seien. Hauptfrage beider Referenten: Wohin sind Bewegungen geraten, die Menschheitsbefreiung sein wollten? Die von Marx und Engels gedachte Einheit von sozialer und technischer Revolution wurde von der Geschichte nicht eingelöst. Revolution wurde zur Behauptung, Behauptung zur volkseinschüchternden Staatsgewalt, und am Ende? Die bittere Wahrheit: »Eine Kritik des Stalinismus vom Marxismus aus kann es nicht mehr geben, denn der Stalinismus ist nicht Deformation, sondern Konsequenz des Marxismus.« Dieckmann zitiert den Theaterregisseur Adolf Dresen.

Und kein Revolutionieren hat je die Entfremdung aufheben können - sie ist untilgbarer Teil menschlicher Existenz. Kräftig hat der Marxismus-Leninismus gegen den Trostcharakter der Religion gewettert. Kampf statt Trost! Heine kommt ins Gespräch, der erst in seiner Matratzengruft liegen musste, um zu bekennen: Leben sei nicht nur Widerstand, sondern auch »Ergebung«. Marx’ Religionskritik sprach vom »Opium des Volkes«. Schorlemmer spricht, mit Luther, vom Beten. Es ist Suche nach einem Ausdruck für das Elend. »Aber das Gebet führt doch auch in den Kampf gegen das Elend, ganz innen, als geläuterte Kraft fürs Außen.« Was als Opium attackiert werde, sei Hilfe, just »solche Schmerzen zu überwinden, die momentan nicht zu überwinden sind. Das ist für mich sehr nah am Menschen.« Marx hat in der »Heiligen Familie« den Atheismus als letzte Stufe des Theismus bezeichnet. Die negative Anerkennung Gottes. Moskau hat dann in seinem Auftrag munter Rom gespielt. Spielt immer gern Rom. Am liebsten kämpft es sich gegen andere Römer. Die Welt ist voll davon.

Für Dieckmann ist der Marxismus das, was der Philosoph Volker Gerhardt als Mischung von »aufgeklärtem Säkularismus, politischem Fortschrittsbewusstein, faustischem Tatverlangen und krudem Positivismus« bezeichnete. Kritik an der Revolutionstheorie bedeute jedoch nicht, dass sich Marx erledigt habe. Er bleibt, wie Luthers Wort, denkerischer Zündstoff. Denn der Kapitalismus stachelt intensiver denn je Alternativsuchende an. Nur taugt nichts mehr als Matrix für messianische Dimensionen - eine geschlossene Theorie vermag keine logische Weltentwicklung zu begründen. Hermetische Weltbilder sind auch nur Opium - um die Wartezeit auf eine Zukunft zu verkürzen, die unter starkem Verdacht steht, nie zu kommen.

Marx und Engels, so Dieckmann, hätten Derartiges wie den »real existierenden Sozialismus« nie gewollt, »aber doch bewirkt«. Freilich haben sie sich nie festgelegt, wie eine Gesellschaft nach der siegreichen Revolution aussehen solle. »Sie wollten nicht Utopisten, sie wollten Philosophen sein.« Also: nicht Antwortende werden, sondern Fragende bleiben. Dieckmann verweist auf Blochs »offenen Marxismus«, der sich zur »Leerstelle« des Zukünftigen bekennt. Wie er Leerstellen aushält, daran entscheidet sich, ob der Mensch Mensch bleibt oder Ideologe wird.

»Müssen wir anders werden, damit die Gesellschaft anders wird oder muss die Gesellschaft anders werden, damit wir selber anders werden können?« Schorlemmer fragt, Dieckmann antwortet: »Wir huldigen dem Idealismus, alle Missstände zu beseitigen. Aber wie? Wir sind ratlos.« Wir sind Verbraucher: alles ist verbraucht, Ideen auch. Auf dem Podium kommt nun zu Luther, Marx, Engels auch noch Brecht. Schorlemmer zitiert: »Sorgt doch, die Welt verlassend, nicht nur, dass ihr gut wart, sondern verlasst eine gute Welt.« Sehr gut, aber woher das ewige Leben nehmen, um das zu erreichen? So weit in die Zukunft reicht keine Revolution und keine Auferstehung.

Tut was, Verdammte! So hatte der Abend begonnen. Er endet mit der Frage: Verdammt, was tun?Jetzt erklingt Luthers und Bachs »Eine feste Burg ist unser Gott«, von Engels als »Marseillaise der Reformation« bezeichnet. Festung, ja - aber als Gegenteil einer Festung. Eher als Bild der Zuversicht inmitten der unbehebbaren Brüchigkeiten. »Ach! Die Toten, Stummen gaffen/ Unsre Taten höhnisch an,/ Wir zerfalln und unser Schaffen,/ Und sie wandeln ihre Bahn.« Der Lauf der Dinge und Zeiten, aller Dinge und aller Zeiten. Das ist nicht Luther, das ist Marx. Der nicht mal Zwanzigjährige, dichtend. Mancher ist herzbewegend weise, ehe er weltbewegend klug wird.

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